Das Feuerwerk
„Geh nicht so schnell!“, rief sie ihm hinterher.
Der Junge und das Mädchen hatten gerade die Grenze des kleinen Dorfes passiert und befanden sich im steilen Aufstieg zum Heiligenhügel, an dessen Spitze ihr Ziel stand, eine kleine heruntergekommene Kirchenruine.
Sie sah sich immer wieder um und blickte auf die vielen Lichter, die in der Tiefe der Nacht aus den Fenstern der jeweiligen Häuser schienen. Wie Glühwürmchen tummelten sie sich in der Ferne. Welch‘ Aussicht! Die frische Brise wehte ihr langes, schwarzes Haar durcheinander, aber das störte sie nicht. Das war ihre Heimat, ihr Zuhause, wohin sie einmal im Jahr zurückkommen konnte. Sie wollte das alles genießen und wenn der Wind beschlossen hatte, mit ihrem Haar zu spielen, sollte er das.
Lächelnd hielt sie sich die Jeansjacke zu, die sie über ihr rotes Sommerkleid geworfen hatte, und atmete den Geruch nach verbranntem Holz ein. Das war der Ort, nach dem sie sich das ganze Jahr über aus dem fernen Deutschland sehnte. Hier war sie frei. Frei von allem und jedem. Frei von sämtlichem alltäglichen Ballast.
Und hier war auch er.
Sie wandte ihr Gesicht um und sah ihn an. Er stand an ihrer Seite und blickte grinsend zurück.
Sie grinste nun auch: „Es ist schön, wieder nach Hause zu kommen.“
„Das wurde auch Zeit. Weißt du eigentlich, wie lang ein Jahr ist?“ Er lachte laut auf und streckte ihr seine Hand entgegen. „Jetzt komm endlich. Es geht gleich los.“
Das Lächeln der jungen Frau wurde breiter. Seit neun Jahren hatte sie mit ihm jeden Sommer ihre Streitigkeiten. So war es mit der ersten großen Liebe. Diese konnte und wollte niemand so schnell vergessen.
Neben den gleichmäßigen Schritten war nur das unregelmäßige Schnaufen der beiden zu hören. Sie genoss das einvernehmliche Schweigen zwischen ihnen.
Nach einem erneuten Streit vor einigen Tagen, hatte er ihr heute Nachmittag vorgeschlagen, einen nächtlichen Friedensspaziergang zu ihrem Lieblingsort zu machen.
Die alte Ruine war bereits in ihren frühen Jugendjahren ihr heimlicher Treffpunkt gewesen. Hier konnten sie streiten und schreien, sich versöhnen und die Aussicht über den Ort genießen. Am liebsten hatten sie aber den Abend des Festes der heiligen Jungfrau Maria am 15. August. Dann veranstalteten alle umliegenden Dörfer gewaltige Feuerwerke, die man von hier oben am besten beobachten konnte. Dieser Moment gehörte nur ihnen.
Jede von seinen Bewegungen löste ein Gefühl der Sehnsucht in ihr aus. Sie wollte ihn berühren und sich von ihm berühren lassen. Sie sehnte sich nach dem Gefühl, ein Teil von ihm zu sein, und wollte die Welt um sie herum kurz vergessen. Nur ganz kurz. Nur für einen Augenblick.
Oben angekommen, führte er sie direkt zu dem Pinienbaum, der ihnen auch als Aussichtspunkt diente.
Lächelnd betrachtete sie den Ort, an dem sie sich zum ersten Mal nahegekommen waren. Sie konnte immer noch seine Hände auf ihrem Körper spüren. Er hatte sie mit diesem Gesichtsausdruck angesehen, der ihr immer noch weiche Knie bescherte, und der sich auch jetzt in seinem Gesicht widerspiegelte.
Er sah hinunter auf das Dorf, das sich aus einem Bergkrater zu erheben und seine Dächer mit Mühe Richtung Himmel zu strecken schien. Sie konnte unterdessen jeden seiner Züge genau betrachten und kam dabei näher.
„Der Streit tut mir leid“, begann sie, umarmte ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust. Sie konnte hören, wie sein Herz schneller schlug.
Ihre große Liebe drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und erwiderte die Umarmung fest. „Ich weiß! Es ändert aber nichts, oder?“
Diese Worte brachen ihr das Herz. Nein, es änderte nichts. Als sie nicht antwortete, spürte sie, wie er ihr über die Wange strich und ihr Kinn zu sich anhob.
„Lass uns einfach nicht mehr darüber reden und diesen Moment genießen.“
Er setzte seine Lippen sanft auf ihre und küsste sie. Das Schlagen vieler Schmetterlingsflügel in ihrem Inneren vervollständigte den Zauber des Augenblicks.
Ein Knall riss sie aus seiner Umarmung.
„Es geht los!“, bemerkte sie strahlend und drehte sich dem Feuerwerk zu.