Diese Geschichte schrieb @Leonjoestick Drama

Fauler Apfel

Verträumt blicke ich in den azurblauen Himmel. Die wenigen, vorhandenen Sonnenstrahlen versuchen sich mühsam durch die Wolkendecke zu quälen. Zu dieser Jahreszeit verliert die Sonne zwar immer mehr von ihrer Kraft, aber dennoch spüre ich eine wohlige Wärme auf meinen Wangen. Ich beobachte vereinzelte Himmelsgebilde, wie sie langsam, majestätisch anmutend über mich hinwegziehen. Ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit fängt an, mich auszufüllen. Wohin es sie wohl treibt? Kann man auf ihnen fliegen? Tragen sie auch Geheimnisse mit sich herum? Ich stelle mir vor, dass jede Wolke auf ihre Art einzigartig ist und die Geheimnisse, die sie im Inneren bewahren, durch den fallenden Regen preisgegeben und geteilt werden. Stolz umspielt ein zartes Lächeln mein Gesicht. Ich ertappe mich dabei, dass ich mir sogar einen Namen dafür ausdenke: Ein Schauer der Erkenntnis. Aber das Lächeln ist genauso falsch wie ich. Unehrlich zu sich selbst zu sein, beherrsche ich wie keine Zweite. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Ignoranz und Authentizität. Ich bewege mich dabei seit Jahren ohne Schirm und Fallnetz, gekonnt souverän in luftiger Höhe.

„Ach, wenn es doch so einfach wäre“, murmle ich leise vor mich hin. Der Stolz ist verflogen. Die Leichtigkeit, die ich vor wenigen Augenblicken spürte, weicht einer Schwere, die mir die Tränen in die Augen treibt. Ich versuche mich von der Bank, auf der ich sitze, zu erheben, aber die Schuld und Last, die ich vermeintlich in meinem Inneren trage, verhindert es. Mein Kopf senkt sich demütig. Bewundernd blicke ich in Richtung des Baumes, der neben mir steil Richtung Himmelszelt empor ragt. Man sagt, dass das Stärkste an einem Baum die Wurzeln sind. Meine Wurzeln sind schwach. Wenn der Baum die Familie ist und der Stamm das Fundament darstellt, dann bin ich eher so etwas wie die heruntergefallenen Äpfel, die kreuz und quer verstreut liegen. Verloren. Am Boden. Und mit Druckstellen übersät.

Papa hat immer gesagt: „Wenn du das Geheimnis preisgibst, wirst du leiden“.

Wird er Recht behalten? Muss ich auf ewig mit dem, was mich nicht schlafen lässt, zurecht kommen? Oder darf ich mich öffnen? Eine Veränderung herbeiführen, dessen Währung Schmerz bedeuten kann?

Über mir verfinstert sich der Himmel. Die einstigen Schäfchenwolken weichen bedrohlich ausschauenden Gewitterwolken. Der Wind dreht von Ost nach West und meine wilde Lockenmähne peitscht mir ins Gesicht. „Wie passend“, denke ich still bei mir und frage mich, ob das Wetter gerade der Indikator für meine Gemütslage ist. Ein Lackmus-Papier meiner Seele. Soll ich das Risiko eingehen und das, was mich umtreibt, jemandem erzählen? Wem kann ich mich anvertrauen, wenn selbst ein Teil der Familie mich davor warnt, es zu tun? Der aufkommende Sturm lässt mich frösteln. Oder ist es die Konstatierung, die vom Inneren meines Schädels vehement an meine Schläfen klopft, dass ich alleine bin. Isoliert. Wie ein einzelner fauler Apfel?

Erste leichte Tropfen fallen vom Himmel. Ich schaue wieder nach oben. Wie zur Bestätigung meines Gedankenspiels öffne ich den Mund und versuche die Geheimnisse, die seicht auf meiner Zunge landen, zu fangen. Der Schauer der Erkenntnis beginnt. Dass ich welche bewahren kann, habe ich schon über Jahre bewiesen. Keiner weiß davon. Nur Papa. Selbst Mama würde es nicht verstehen. Würde mich verurteilen. Diese stolze Frau. In ihrer Gedankenwelt ist für so etwas kein Platz. Möglicherweise hat sie es ja doch gespürt, diese Veränderung meiner Selbst? Eine Mutter sollte so etwas doch bemerken. Aber wahrscheinlich eher nicht. Sie ignoriert gekonnt das, was nicht sein darf. Für sie bin ich nach wie vor ihr kleines Mädchen. Selbst mit fast sechzehn Jahren bleibe ich ihre kleine Samantha.

Woher nehme ich bloß die Kraft, um ihr und allen anderen zu sagen, dass ich ab nun SAM genannt werden möchte?

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