Diese Geschichte schrieb jessica-graves.com @jessicagraves.schreibt nonfiction

Eine magische Nacht

Als ich ein Kind war, fuhren meine Eltern mit meinem Bruder und mir in den Sommerferien oft an die Ostsee. Ich liebte das Meer. Das kühle Nass auf meiner Haut. Die Schwerelosigkeit im Wasser, das Urvertrauen, dass die Wellen mich stets wieder zurück ans Ufer schwemmen würden.

Was ich nicht liebte, war die Sonne. Sie verbrannte mich viel zu oft, war unbarmherzig und bereitete mir Kopfschmerzen.

Dafür genoss ich die sternenklaren Nächte umso mehr. Das sanfte Rauschen der Wellen, die vielen Lichter bei der Seebrücke, der salzige Geruch nach Algen, Sand und Meer. Die warme Brise, wie ein liebevolles Streicheln einer wohlwollenden Muttergöttin.

In lauen Sommernächten am Meer erwachte die Magie um mich herum. Glühwürmchen trugen meine Träume zu den Sternen, Grillen zirpten das Lied der Elfen und wenn ich einen Schatten sah, war ich sicher, dass er einem guten Wassergeist gehören musste. Sternschnuppen fielen in diesen Tagen viel öfter. Alles war erfüllt von dem lebendigen Pulsieren einer sehr realen Magie.

In einer dieser sternklaren Nächte machten wir einen Abenteuerausflug. Ich liebte die Dunkelheit, durch die wir fuhren, durchsetzt von den orange glühenden Lichtkegeln der Straßenlaternen. Liebte es, wie meine Haare hinter mir her flatterten, während ich in die Pedale trat, in der Hoffnung, einfach abheben zu können, wenn ich nur schnell genug wäre.

Das Ziel der Reise war mir egal, denn der Weg allein führte mich durchs Märchenland. Nie wollte ich dort weg.

Nach langer Zeit – ich weiß nicht mehr, wie lange und Zeit ist relativ in Kinderaugen – kamen wir bei einem Leuchtturm an. Einem Leuchtturm, der nicht auf einer Klippe stand oder direkt am Ufer, sondern umgeben von Heidefeldern und niedrigen Büschen. Das Zirpen der Grillen war hier so laut, dass es das Rascheln der Blätter im Wind übertönte.

Mein Vater stellte sein Rad ab.

Wir folgten ihm zum Leuchtturm, bis wir direkt vor der weißen Wand standen. In Gedanken war ich schon wieder am Träumen. Das Grillenzirpen kannte ich zu genüge und die Fahrt war lang gewesen. Ich wurde müde.

Im Ort hatte es einen Eisladen mit dreißig verschiedenen Eissorten gegeben und ich versuchte, sie alle aufzuzählen, um mich zu entscheiden, welche ich morgen kosten würde.

Erst als mein Vater nach oben wies, kehrte ich mental zurück, denn das, was ich sah, war so viel besser als Eis. Vom Leuchtturm ausgehend erstreckte sich ein großes, leuchtendes Netz aus Licht über den Himmel. Eingeteilt in Quadrate zeigte sich uns die Nacht auf eine ganz neue, fantastische Art. Sternbilder leuchteten über uns. Der Große Wagen und der Drachen. Herkules und der Gürtel des Orion. Allesamt beschriftet und mit hübschen Bildern.

Fasziniert setzte ich mich ins Gras und wagte nicht einmal zu blinzeln. Der Lichtkegel des Leuchtturms flog über mich hinweg, doch ich ignorierte ihn, denn ich musste mir etwas viel Bedeutsameres einprägen. Dieses Wunder, das den Himmel über mir noch verwunschener machte.

Endlich war ich angekommen in einer fremden Welt, die doch die meine war. Einem mystischen Elfenkönigreich, in dem Eiscreme nach hundert Sachen schmeckte, die Grillen Lieder sangen, Glühwürmchen einen Reigen tanzten und der Himmel in wundersamen Bildern leuchtete.

In diesem Moment hatte ich keine Sorge mehr. Keine Angst. Nur noch Staunen und grenzenlose Liebe für dieses Leben.

Viel zu schnell wurde ich daraus wieder entrissen. Nach Minuten – oder es mochten auch Stunden sein – forderte uns mein Vater auf, zurück aufs Rad zu steigen und zurückzufahren. Widerwillig löste ich mich von dem überirdischen Anblick. Mir war klar, dass ich das hier vermissen würde. Ich nahm mir vor, das Erlebnis wie einen Schatz tief in mir zu vergraben und niemals zu vergessen.

Während wir übers Land zurückfuhren, blies mir der Wind durchs Haar und die Grillen zirpten. Der Duft von Salzwasser, Algen und Heide lag mir in der Nase. Es war eine magische Nacht. Doch die Magie wurde mit jedem Tritt in die Pedale weniger.

Noch heute denke ich an dieses Erlebnis staunend zurück. Ich habe seither nicht herausgefunden, welcher Leuchtturm das Lichtspektakel veranstaltet, doch die Liebe fürs Meer und für die Nacht sind geblieben. Ich werde sie immer mit jenem Tag unterm Leuchtturm verbinden, an dem ich dem Beweis bekommen hatte, dass es Wunder wirklich gibt.

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