Diese Geschichte schrieb @florianstritzinger Spannung

Der Fuchs

Der an eine überdimensionale Oblate erinnernde Vollmond schob sich wie in Zeitlupe über die ersten Baumwipfel. Sein Licht schälte die Umrisse der kahlen Bäume aus der Dunkelheit, die teils knorrigen, verkrüppelten Äste wirkten dabei wie knöcherne Finger, die nur darauf warteten, gierig zuzupacken. Am Nachthimmel, der den Wald wie ein samtenes, schwarzes Tuch überspannte, konnte man ein beeindruckendes Diadem aus funkelnden Sternen beobachten, dem Christina jedoch keine Beachtung schenkte, da sie sich gerade einen Weg durch das sperrige und dichte Unterholz bahnte und sich dabei alles andere als wohl in ihrer Haut fühlte. Mit ihrer rechten Hand umklammerte sie eine kleine Stabtaschenlampe, deren Strahlkraft allerdings zu schwach war, um den wabernd über den Waldboden kriechenden und ihr bis zu den Waden reichenden Nebel zu durchdringen. Die feuchte kalte Luft, die mit dem würzigen, waldtypischen Duftcocktail aus modrigem Laub, Harz, Erde, Pilzen und anderen Gewächsen geschwängert war, durchdrang langsam, aber kontinuierlich ihre textile Schutzschicht und ließ sie frösteln.

Neugierig streckte der junge Fuchs seine Nase in die Luft und schnupperte. Sein sensibles Geruchsorgan hatte unter den ihm vertrauten Düften einen fremdartigen wahrgenommen, dessen Ursprung es nun zu erforschen galt. Auf einer kleinen Lichtung blieb er kurz stehen und stellte lauschend seine Ohren auf, doch er vernahm kein einziges verdächtiges Geräusch. Das Tier hob den Kopf, blickte in den Himmel und seine Augen begannen aufgrund des Mondlichts, das sich darin spiegelte, plötzlich wie zwei kleine, glühende Stückchen Kohle orange zu leuchten.

„Wieso habe ich mich bloß auf diese beschissene Mutprobe einlassen?“, schimpfte Christina leise vor sich hin, während sie sich weiter stapfend durch den Wald kämpfte. Auf einmal begann der Strahl ihrer Taschenlampe stroboskopisch zu zucken, ein scheinbar letztes Aufbäumen, bevor er Sekunden später vollkommen erstarb. „Verdammt!“, fluchte sie und rammte das nun mehr unbrauchbar gewordene Utensil verärgert in ihre Jackentasche.

Der junge Waldbewohner hatte mittlerweile seine Verfolgung wieder aufgenommen und trottete suchend weiter. Der Duft war inzwischen intensiver geworden, er war der Quelle also schon näher gekommen und somit auf der richtigen Spur.

Völlig genervt kramte Christina in ihrem Rucksack nach dem Handy, zog es heraus, entsperrte es und aktivierte die Google Maps-App, um sich zu orientieren. Die auf dem Display abgebildete Landkarte zeigte eine in der Nähe ihres Standpunktes verlaufende Straße. Ihre Stimmung hellte sich wieder etwas auf. „Scheiß auf die Mutprobe!“, dachte sie und machte sich auf den Weg in die Richtung, wo die Straße sein musste, doch das schrille Kreischen, das plötzlich als mehrfaches Echo durch den Wald hallte und die Stille zerriss, ließ sie sofort wieder wie zu einer Salzsäule erstarren. Was war das? Ihr Herz begann wild zu pochen. Das Kreischen wiederholte sich, dieses Mal jedoch noch schriller, sodass es ihr fast körperliche Schmerzen verursachte. Normalerweise hätte sie in einer Situation wie der jetzigen schleunigst das Weite gesucht, doch sie widerstand dem starken Fluchtinstinkt. Christina konnte es rational nicht erklären, sie spürte einfach, dass ihre Hilfe dringend gebraucht wurde. Ihrem Bauchgefühl folgend, lief sie mit aktivierter Handytaschenlampenfunktion in die Richtung, aus der das Kreischen gekommen zu sein schien.

Schweißgebadet, mit fiesem, das Atmen erschwerenden Seitenstechen und völlig außer Atem blieb Christina stehen. Unter das laute Keuchen ihres Atems mischte sich nun noch ein anderer Laut, ein leises Winseln. Sofort hob sie das Handy hoch und der Schein der Taschenlampe erfasste, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, einen am Boden liegenden Umriss, der sich leicht hob und senkte. Vorsichtig näherte sie sich und erkannte einen sehr schwach atmenden, jungen Fuchs, dessen rechtes Hinterbein, aus dem ein spitzer Knochen ragte, in einer illegalen Tellereisenfalle steckte. Langsam ließ sie sich vor dem Tier auf die Knie sinken, woraufhin der Fuchs sofort, aber mit scheinbarer Mühe den Kopf hob. Als sich ihre Blicke trafen, schien die Zeit plötzlich stillzustehen und Christina hatte das Gefühl, als würde gerade ein übernatürliches Band zwischen ihnen entstehen. Sie bildete sich ein, Vertrauen in den Augen des Tieres zu erkennen, so als wüsste es genau, dass von ihr keine Gefahr ausging. Der Fuchs schien zu spüren, dass sie ihm nur helfen wollte. Daher ließ er sich ohne Widerstand von ihr vorsichtig hochheben. Zärtlich wie eine liebende Mutter drückte sie das Tier an ihre Brust, wild entschlossen, sein Leben zu retten.

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