Zwei Welten
Stefan trat aus dem Bürohaus in den Sonnenschein. Anders als sonst verweilte er etwas, schaute sich um. Er horchte dem Leben um sich herum. Reifen surrten über den Asphalt, Motoren dröhnten und die Vögel sangen. Alles lag in einem Wettstreit, als ginge es darum, einen Preis zu gewinnen. Disharmonie lag in allem, aber zusammen war es der Soundtrack dieser Stadt. Er hörte Gesang, eine Straßenband, A Capella, wie es schien. Stefan schlenderte auf die Gruppe zu, die aus fünf Mitgliedern bestand, drei sangen gerade den Refrain eines alten Stückes von Tic Tac Toe. „… ich find Dich scheiße, so richtig scheiße, so sch-sch-sch-eiße …“. Schon damals fand er den Song so richtig … schlecht. Scheint‘s fanden das auch die Leute, die achtlos an der Gruppe vorbeigingen. Als Stefan näher kam, schlug ihm die Wahrheit heftig in den Bauch. Die Gruppe bestand aus wohlgestylten Jugendlichen aus gutem Hause, zumindest sahen die Klamotten und Uhren teuer aus. Sie standen dicht vor einem Bettler und sangen auf ihn herunter. Es war ein Schmähgesang. Es war eine Situation übelster Art, die sich Stefan präsentierte. Plötzlich wusste er, was Fremdschämen bedeutete. In seinen Adern kochte pures Adrenalin, sein Herz war Eis, als er sah, wie der Bettler sich zusammenkrümmte unter den stechenden Worten, den Kopf in den Armen verborgen.
Bedrohlich ragten sie vor ihr auf, standen in ihrem Bannkreis. Ihr Atem ging schwer, sie fühlte sich bedrängt, erdrückt und einsam. Wie gern würde sie sich wehren gegen diesen Übergriff, aber sie fand die Kraft dazu nicht. Sie machte sich klein und zog sich in sich zurück. Da war Gesang, aber sie verstand die Worte nicht. Alles strömte zusammen in einen Brei aus Lauten, den sie als Rüstung verwenden konnte. Warum taten Menschen so etwas? Warum mussten sie auf Menschen eintreten, die schon unten waren? Ihre Gedanken wurden langsam in den tröstenden Brei aus unverständlichen, weit entfernten Lauten gesogen.
„Was soll das!!! Lasst den Bettler in Ruhe! Der hat Euch doch gar nichts getan!“ Stefan schrie beinahe, während er auf die Gruppe zulief. Er war wütend, so wütend. Nur am Rande stellte er fest, dass die Menschen um ihn herum Notiz nahmen. Nicht an dem, was dem Bettler geschah, vielmehr an einem schreienden Mann, der augenscheinlich seinen Verstand verloren hatte. Auch die Gruppe beim Bettler bemerkte ihn nun, ein paar drehten sich um, stießen dann die anderen an und machten sich davon. In Stefan breiteten sich Erleichterung und Enttäuschung aus. Gern hätte er den kleinen Scheißern gezeigt, was er von deren Aktion hielt. Beim Bettler angekommen, musste er erst einmal wieder zu Atem kommen. Auch sein Adrenalin hämmerte ihm im Körper. Stefan schaute sich um und sah vorübereilende Bürger, manche schüttelten den Kopf, doch niemand blieb stehen. Am liebsten hätte er sie angeschrien, geschüttelt, ihnen Menschlichkeit eingetrichtert. Doch Stefan blieb stumm. Es war still um sie geworden.
‚Habe ich es geträumt?‘ Eben waren da noch die furchtbaren Menschen und dann das entsetzliche Brüllen. Angst hatte nach ihr gegriffen. Doch die Ruhe war beinahe genauso beängstigend. Ein paar Beine standen noch vor ihr. Sie knickten ein und ein Körper drängte sich in ihren Bannkreis. Eine Stimme gesellte sich dazu und stellte Fragen. „Lasst mich in Ruhe, ich will euch nicht, ich will niemanden.“ Ihre Stimme klang brüchig. Und schon versteckte sie ihre Sinne wieder tief in sich, bis die Welt verschwunden war.
„Es tut mir so leid, was die Typen da gerade gemacht haben. Unentschuldbar. Ich verstehe die Menschen nicht, die so etwas tun. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Eine Mauer hätte nicht teilnahmsloser als die Person vor ihm sein können. Seine Hand streckte sich ihr entgegen, blieb dann starr und Stefan zog sie erschrocken zurück. „Verstehen Sie mich?“ Keine Antwort. Nach all den Emotionen, die in Windeseile seinen Kopf durchströmt hatten, schmerzte ihn die bewegungslose Stille. „Sagen Sie doch etwas. Darf ich Ihnen behilflich sein? Brauchen Sie etwas?“ Mit einem Mal kam er sich wie ein Idiot vor. ‚Natürlich braucht er etwas, ein besseres Leben zum Beispiel.‘ Seine Beine streckten sich. Er sah auf die Person hinab und ging dann zögerlich in Richtung Rathaus. Später einmal würde er von seiner Heldentat erzählen, mit ein wenig Stolz in der Stimme. Aber jetzt, jetzt war er traurig.