Kein Weg zurück
Tosendes Wasser umspült den leblosen Körper. Wiegt ihn hin und her. Immer wieder schlägt der Kopf gegen die scharfkantigen Ufersteine, während sich das Blut, das aus der Wunde sickert, mit dem salzigen Meer vermischt und das einst blühende Leben fortträgt. Das Geräusch, wenn der Schädel auf Stein trifft, klingt dumpf und wiederholt sich. Es ist ein Takt der besonders Art. Zwischendurch, das Rauschen der Wellen. Klonk, shhh, klonk, shhh. Immer im Wechsel. Klonk, shhh, klonk, shhh.
Es hatte nur einen Wimpernschlag gebraucht, dann war es vorbei. Für immer.
Die Steine sind rutschig, umhüllt von Algen und Wasser. So wunderschön anzusehen, aber in einem unachtsamen Moment tödlich.
Die leeren, blauen Augen starren ins unendliche Nichts des Himmels. Nie wieder werden sie all die Schönheit auf Erden erblicken können. Wie das Wiegen der Baumkronen im Wind, das Lächeln eines geliebten Menschen oder den Sonnenaufgang, der die Welt erweckt.
Eine Fliege landet auf der bleichen Nasenspitze und putzt ihre Glieder. Nie wieder frisch gebackener Brötchenduft. Nie wieder Rosenduft, der in der Nase kitzelt oder der Geruch von Zimt und Lebkuchen an Weihnachten.
Die Ohrmuschel füllt sich mit jeder Welle erneut mit Wasser. Vorbei ist die Zeit, an dem sich ein Lachen zu ihr verirrt. Kein Rauschen des Meeres und auch kein Donnergrollen, das einen Sturm ankündigt, wird sie jemals mehr erreichen. Kein Lieblingslied, kein tosender Applaus.
Die Lippen sind schmal und blass. Der Farbton ist eins mit der bleichen Haut, die bläulich schimmert. Sie werden nie wieder etwas sagen können. Kein Gesang wird mehr über sie kommen und auch kein frohes Lachen mehr. Nie wieder werden sie das Kribbeln spüren, wenn sich andere Lippen auf sie niederlegen. Keine Umarmung wird dieser Körper jemals wieder spüren können. Auch nicht das weiche Fell des Nachbarhundes oder die raue Zunge einer Katze. Der kalte Schnee, der an den Händen schmerzt, nach einer ausgelassenen Schneeballschlacht. Wärme oder Kälte, nichts ist mehr wichtig.
Das kleine Sternentattoo an ihrem rechten Handgelenk erinnert an eine schwere Zeit. Noah, dessen Leben viel zu kurz war, bevor der Himmel ihn ihr genommen hatte. Ihn wird sie jetzt wiedersehen, so wie ihren Großvater, der so viel Geschichten zu erzählen hatte. Gern hätte sie sie aufgeschrieben, als er noch klar bei Verstand war. Aber im Laufe der Zeit wurden die Geschichten kürzer und weniger und wiederholten sich wie in einer Dauerschleife. Zweimal in der Woche hatte sie ihn besucht. Und jedes Mal führten sie denselben Dialog. Wäre sie noch am Leben, würde sie jetzt lächeln und die Erinnerungen in sich aufnehmen. Aber es ist zu spät.
Emiliana, so heißt die junge Frau, liebte das Leben mit all seinen Facetten. Dass dieses Leben irgendwann einmal vorbei sein würde, wusste sie, aber nicht, dass es heute sein würde.
Wenigstens war sie zu diesem Zeitpunkt am Meer. Sie liebte die Ostsee, konnte nicht genug vom Rauschen der Wellen, dem Kreischen der Möwen und der salzigen Luft bekommen. Jede Minute hier war wie eine Auszeit, ein Urlaub, ein wundervoller Tag.
Wie gern hätte sie noch ihrer Mutter gesagt, wie dankbar sie ist, dass sie immer für sie da war. Ihr Vater, der sie in all ihren Wünschen unterstützt hat. Ihren Bruder, der zwar manchmal nervte, den sie aber für kein Geld der Welt hätte eintauschen wollen. Ihre beste Freundin, die in den schönsten und schlimmsten Stunden, immer an ihrer Seite war. Sie hat sich nie ihren großen Traum erfüllt, ein Buch zu schreiben oder einen Song. Sie wollte unbedingt noch Spanisch lernen, weil sie diese kraftvolle Sprache so faszinierend fand. Damit angefangen hat sie nie.
Jetzt haben all diese Dinge keine Bedeutung mehr, denn für Emiliana gibt es keinen Weg zurück. Ihr Leben ist ausgehaucht. Aber du hast noch so viele Möglichkeiten, all die schönen Dinge im Leben zu genießen. Auch du hast nicht ewig Zeit. Jeder Tag könnte der letzte sein. Nutze den Moment und gestehe deinem Herzensmensch deine Liebe.
Denke darüber nach, welche Dinge du bereuen würdest, weil du sie niemals getan oder gesagt hast. Worüber bist du froh und dankbar in deinem Leben?
Alles ist möglich, solange du am Leben bist und der blutrote Saft durch deine Adern pulsiert. Denn jeder Herzschlag und jeder Atemzug ist ein Geschenk.