Das Küchenfenster zur Straße
Nun war ich also seit drei Jahren ein alleinerziehender Vater mit einer kleinen Tochter – und ich glaube, ich hatte mich bisher gar nicht schlecht geschlagen. Mit der Zeit hatte sich ein fester Tagesrhythmus eingependelt, der beinhaltete, dass ich unter der Woche jeden Morgen um halb acht an der Arbeitsplatte vor dem Küchenfenster stand und ein Kita-Frühstück für meine Tochter vorbereitete. Somit hatte ich nun nahezu täglich zur selben Uhrzeit den Blick auf die Straße vor mir, den Blick auf die Bäume, die Büsche, die Hecken, den Blick auch auf die anderen Menschen, die teilweise ebenfalls einem festen Tagesrhythmus zu folgen schienen, denn ich sah mehrere von ihnen regelmäßig. Auf diese Weise war ich in der Lage, der Natur bei ihrem Lauf durch die Jahreszeiten zuzuschauen. In den wärmeren Monaten war alles um mich herum dicht bewachsen, der Blick war entsprechend eingeschränkt, die Bäume versperrten die Sicht auf die etwas weiter entfernten Häuser. Doch ab dem Herbst lichtete sich das Blattwerk, und ich konnte das hässliche Graffito am Haus gegenüber sehen, konnte in einige Fenster blicken, nahm mehr von meiner Nachbarschaft wahr. Oft schien es mir, als würden die Wolken am Himmel gerade dann verstärkt auftauchen, wenn es in mir ebenfalls bewölkt war, und als würde die Sonne zum Vorschein kommen, wenn auch mein Innenleben wieder heller beleuchtet war — aber es kann sein, dass ich das nur so wahrnehmen wollte, dass es aber in Wirklichkeit gar nicht so war. Gleiches mag für meine Beobachtungen gelten, die ich in Bezug auf andere Menschen anstellte, die regelmäßig morgens das Haus passierten. Da war die mittelgroße, schlanke Frau, etwa in meinem Alter, dunkelhaarig, Brille, stets zurückhaltend in gedeckten Farben gekleidet, die Tag für Tag offenbar von der U-Bahn-Station kam und sicherlich zur Arbeit wollte. Sie trug ihre modische Handtasche halb auf dem Rücken und ging stets mit wippendem Schritt — allerdings mit sich unterscheidendem Tempo und wechselnden Körperhaltungen. Ich bildete mir ein, hieran ihre jeweilige Stimmungslage erkennen zu können. Wenn sie eher zögerlich ging und trotzdem kraftvoll mit den Füßen auf den Boden trat, vermutete ich schlechte Laune. Schritt sie schnell und beschwingt aus, schien sie sich auf die Arbeit zu freuen. Selten konnte ich hängende Schultern und einen gesenkten Kopf beobachten, was für mich auf Traurigkeit hindeutete. Apropos „Traurigkeit“: Auf der einen Seite machte es mich traurig, meiner verstorbenen Frau nicht von diesen Beobachtungen erzählen zu können, aber auf der anderen Seite war es besser so, denn sie hätte direkt mit mir geschimpft. „Du kannst nicht von solchen äußerlichen Beobachtungen auf das Innenleben eines Menschen schließen!“, hätte sie gesagt. „Das ist so typisch Mann! Und wenn sie nen kurzen Rock tragen würde, wäre sie Freiwild, nicht wahr?“ Es hätte mich getroffen, etwas Derartiges an den Kopf geworfen zu bekommen, denn schließlich war ich nicht so. Nein, ich stellte einfach nur Vermutungen an, ganz harmlose, ohne Hintergedanken. Und diese betrafen ja nicht nur weiblich gelesene Menschen! Unter den männlichen Personen, die regelmäßig von meinem Küchenfenster aus zu sehen waren, befand sich neben einem eher uninteressanten Lastenrad-Papi, der Tag für Tag mit seinem kleinen Sohn im „Gepäck“ die Straße entlang fuhr, auch eine sehr auffällige Gestalt. Jener Mann trug — man mag es mir glauben oder nicht — stets eine dieser Schlafmützen mit Bommel, die mich an Onkel Fritz aus „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch denken ließ. Aber damit nicht genug, denn unterhalb des Kopfes war er unabhängig von Wetter und Jahreszeit mit einem Ostfriesennerz bekleidet, also mit einer knallgelben Regenjacke. Die blaue Hose mit den roten Galonstreifen passte hierzu ebensowenig wie die abgewetzten Wildlederstiefel, die durchaus in einem Italo-Western hätten Verwendung finden können. Diese eigenwillige Gestalt trug nahezu immer gehäkelte Einkaufsnetze in beiden Händen, in denen sich Flaschen befanden, vermutlich Pfandflaschen. Was für eine Biographie wohl einen solchen Aufzug hervorgebracht hatte? Wie mochte die Kindheit dieses Menschen gewesen sein? Hatte er liebende Eltern gehabt? Oder war er von klein auf ein Waisenkind gewesen und von Heim zu Heim geschickt worden? Ich würde es nie erfahren. „Was andere Menschen wohl über mich für Vermutungen anstellen?“, fragte ich mich leise, während ich meine Tochter auf dem Flur umhertapern hörte. Sind unsere Mitmenschen stets nur Projektionsfläche für unsere Phantasien, für unsere eigene Vielschichtigkeit?