Das Gerstenfeld
Das Kribbeln in der Kniekehle war nicht eingebildet. Geistesabwesend fasste sich Anna an ihr Bein und fühlte etwas Klebriges. Oje, was hatte sie zermatscht mit ihren ungeschickten Fingern? Sie seufzte und richtete sich auf.
Ihr Blick streifte das Gerstenfeld. Den dunklen Waldsaum beäugte sie allerdings unsicher.
Sie wischte sich die Grannen der Gerste aus dem Gesicht und legte sich wieder zwischen die Getreidehalme. Aus dem blauen Baldachin starrte die Sonne auf sie nieder und für einen Augenblick gab es nur sie im Gerstenbett.
Damals war das ihr Lieblingsspiel. Im rasselnden Getreidefeld liegend die Sonne Muster auf die geschlossenen Lider malen lassen. Vom Summen und Brummen eingelullt in Traumwelten gleiten. Anna lag gerne und lange im Feld, ungeachtet, dass sie das Gekrabbel an ihrem Körper nicht mochte.
Zu früh heimkehren hieß, das Gezeter der Eltern anhören zu müssen. Mal ging es um die zwei Stunden, die der Vater mit seinen Kollegen nach getaner Arbeit verbrachte. Mal um das dritte Kaffeeservice, das die Mutter angeschafft hatte. Und wenn sie sich nichts gegenseitig vorwarfen, wandten sie ihre Unzufriedenheit gegen Anna. Sie zog daher das Getier vor.
Der Himmel hatte lange genug Annas Erinnerungen gelauscht und zog sich nun zu. Der Wald am Feldsaum wurde dunkler und strahlte über die Weite des Feldes seine Kühle aus. Anna stand auf und strich ihre Kleidung tierfrei. Das Elternhaus lag hinter dem Wald.
Sie ging.
Einen ganzen Monat war es bereits her, dass sie den Brief vom Nachlassgericht in den Händen hielt. Das Öffnen des Briefes hatte ihr Magendrücken verursacht und es dauerte eine weitere Stunde, bis sie den Brief lesen konnte. Ihre Eltern waren kurz hintereinander gestorben.
Anna war die einzige Erbin. Zu ihrem Missfallen, denn sie hatte sich vor langer Zeit geschworen, nie wieder einen Fuß in die Gegend, geschweige denn in das Haus zu setzen.
Nun ging sie langsam auf den Wald zu, den Impuls wegzulaufen unterdrückend. Sie war schließlich kein Kind mehr. Natürlich hatte ihre Mutter das gänzlich anders gesehen und Anna auch immer wieder spüren lassen.
Je näher sie dem Wald kam, umso schwerer wurden die Schritte. Bald würde sie das Haus dahinter erreichen. Das eingeschossige Haus mit dem tiefen Dach, mit dem unverwechselbaren Duft nach eingelagerten Äpfeln, Brot und Sellerie. Es war ein Märchenhaus, zumindest hatte sich Anna die Häuser in den Geschichten, die Oma erzählte, immer so vorgestellt. Das Märchenhafte zerbrach, als Anna die Kindlichkeit langsam abstreifte und allmählich der Tonpegel in dem Haus zunahm. Ab dann flüchtete sie lieber in die Felder rundherum und fing an, den Brotduft zu hassen.
Sie hatte den Wald erreicht, atmete die feuchte moosige Luft ein und beschleunigte ihre Schritte.
Das Gefühl, das Bedrückende des Waldes hinter sich zu lassen und das Haus zu erblicken, hatte sich nicht geändert. Es strahlte immer noch Behaglichkeit aus, selbst in dem verlotterten Zustand. Die Eltern hatten mit fortschreitendem Alter die Pflege des Hauses aufgeben müssen, und das nötige Geld für ein Auslagern dieser Arbeiten war nicht vorhanden.
Der Traum vom Haus hatte sich in einen Albtraum verwandelt, finanziell und letztlich auch persönlich. Die Jugendliebe der Eltern hatte sich in eine unauflösliche giftige Beziehung transformiert.
Anna ging um das Haus herum. Sie brauchte Zeit, um sich zu überwinden, ihr einstiges Heim zu betreten.
Sie staunte über den verwilderten Garten mit der Handvoll Obstbäumen, die nahezu verschlungene Bank unter der Kirsche. Es blühte und summte und roch wunderbar.
Wie schnell sich die Natur ihren Raum zurückeroberte, wenn sie in Ruhe gelassen wurde!
Anna setzte sich auf die Bank, das Krabbelige ignorierend und schloss die Augen.
Sie würde heilen.