Diese Geschichte schrieb @nadine_h_engel Contemporary Fantasy

Ceres

Nach einem schweißtreibenden Hoftag sitze ich auf einem Baumstamm am Rande des Ackers und lasse meinen Blick über die Getreidefelder schweifen.

Eigentlich macht mir die Arbeit Spaß. Das ist vermutlich auch der Grund für meine Zweifel, ob ich unserem Hof wirklich den Rücken kehren will. Es ist viel zu tun, man ist vom Wetter und vielen Faktoren abhängig und doch verdient man kaum damit. Die Zeiten sind nicht gut für Landwirte mit Familienbetrieben. Nach und nach werden die kleineren Höfe hier in der Gegend aufgegeben. Das Studium war für mich ein Weg, um aus dem Landtrott auszubrechen. Aber ich stelle immer wieder fest, dass mir die Wissenschaft nicht die Freude bereitet, die ich erwartet hatte. Der Gedanke an eine Karriere in meinem Fachbereich erfüllt mich nicht so, wie das Leben hier auf dem Land.

„Darf ich mich dazu setzen?“ Die melodische Stimme reißt mich aus den Gedanken. Wie aus dem Nichts steht plötzlich eine junge Frau neben mir.

„Ja, natürlich!“ Erstaunt betrachte ich sie. Im letzten Licht der sinkenden Sonne wirkt es, als würde ihre Silhouette mystisch angestrahlt. Ihre makellosen Gesichtszüge machen sie zu einer perfekten Kandidatin zur „Miss Ernte“ Wahl. In ihrem Haar sind Ähren eingeflochten, ein untypisches Bild für eine Wanderin. Anders kann ich mir aber ihr plötzliches Auftauchen nicht erklären.

„War ein anstrengender Tag?“

„Kann man so sagen. Die Ernte einzuholen ist jedenfalls kein Spaziergang!“, gebe ich schulterzuckend zu.

Sie nickt mit einem wissenden Lächeln. „Aber vielleicht ist es genau das, was einen am Ende des Tages glücklich macht?“

Als habe sie meine Gedanken von vorhin belauscht. Verrückt.

„Das kann sein. Aber es ist nicht gerade lukrativ.“

Mein Gegenüber nickt nur.

Ich frage mich, wo sie herkommt. Denn ich kenne hier alle in meinem Alter. So ist das auf dem Land, alle gehen schließlich auf die einzige Grundschule hier. Spätestens dann kennt man jedes Gesicht. Doch sie habe ich noch nie zuvor gesehen.

„Bist du zugezogen?“

„Ist das so offensichtlich?“

Lachend zupfe ich einen Halm von meinem T-Shirt. „Naja, sonst wären wir uns sicher bereits begegnet!“

„Stimmt!“ Sie nickt. „Ich bin nur zu Besuch. Ein paar Freunde leben hier und in der Erntezeit kann man jede helfende Hand gebrauchen!“

Oh ja, deswegen bin ich hier und unterstütze meine Eltern. Mit tiefen Atemzügen sauge ich die spätsommerliche Luft ein. In der Ferne kann ich eine Reiterin erkennen.

„Wusstest du, dass sehr viele Pferdebesitzer einen guten Stall suchen?“ Auch die Unbekannte neben mir scheint das Pferd-Mensch-Paar am Horizont zu betrachten. Ich beobachte, mit welcher Leichtigkeit diese Einheit über eines der frischen Stoppelfelder galoppiert. Die Frau neben mir erzählt währenddessen weiter. Sie klingt so gedankenversunken, wie ich es bin.

„Man braucht hier einen zuverlässigen Hofbesitzer mit Pferdeverstand. Einen großzügigen, hellen Stall und eine Versorgung mit ausreichend Weidegang und guter Futterqualität. Bei so viel tollem Land hier, ist es eine Schande, dass es keinen Pensionspferdestall gibt. Ich verstehe gar nicht, dass nicht einer der Landwirte im Umkreis seinen Hof umbaut. Dabei haben viele Milchvieh und Rinderhaltung längst aufgegeben und nutzen die Fläche nur noch zur Heugewinnung.“

Perplex nicke ich. Wir werden ebenfalls bald die Stallungen leer stehen haben, wenn meine Eltern die Rinder abgeben, weil es sich nicht mehr lohnt. Weil die Großunternehmer den Markt beherrschen und die tiergerechte Kleinunternehmerkultur verschlingen. Warum ist niemand von uns auf die Idee gekommen, den Hof umzubauen? Das könnte die Lösung sein. Pferdehaltung! Immerhin hatten wir früher lange genug Pferde und meine Mutter war sogar Pferdewirtin, bevor sie meinen Vater kennengelernt hat. Es wäre kein völliges Neuland für uns. Heu und Stroh produzieren wir doch sowieso. Warum also nicht, statt es zu verkaufen, als Futtergrundlage für Pensionspferde nutzen? Das könnte unsere Zukunft sichern. Klar müsste man einiges umbauen. Aber das klingt in meinen Ohren viel interessanter, als nächste Woche wieder zur Uni zu gehen.

„Die Fleißigen und Rechtschaffenen werden belohnt!“

Verwundert betrachte ich sie, während sie sich erhebt und mir zuzwinkert. Was dann geschieht, lässt mich mit offenem Mund zurück. Vor meinen Augen löst sie sich in einem Lichtkegel auf. Bevor ihre Gestalt vollständig verschwindet, glimmt eine Brosche überdeutlich auf. Ein Füllhorn. Das Zeichen der Ceres.

Hat mir gerade eine römische Göttin einen Tipp gegeben?

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