Diese Geschichte schrieb @aus_federkiel_und_tintenfass Drama

Buddy

Damals

Blaugrüne Augen, eingebettet in tiefe Höhlen und umgeben von salziger Flüssigkeit, starrten geradeaus, fixierten einen unsichtbaren Punkt, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Im Inneren des Hauses war kein Laut zu hören, kein Geräusch störte die Stille, obwohl es außerhalb der schützenden Wände unüberhörbar ungemütlich war. Draußen zog der Wind heulend seine Bahnen durch die winterlich kahlen Baumkronen, wirbelte die auf dem Boden verrottenden Blätter und kleine, abgestorbene Äste durcheinander und peitschte wütend über den plätschernden Bach.

Doch in die kleine Hütte, die sich der rauen Natur wie eine gut bewachte Burg entgegenstelle, gelangte er nicht.

Nach einer gefühlten, halben Ewigkeit ebbte der Wind ab, und draußen breitete sich die Stille aus. Die Sonne hatte sich längst hinter dunklen, bedrohlichen Wolken verschanzt, sodass es den Anschein erweckte, noch schneller zu dämmern, als es ohnehin in dieser Jahreszeit der Fall war.

Ein Käuzchen ließ sich auf dem Dach des Hauses nieder und spähte konzentriert nach Beute.

Die leisen Atemzüge im Inneren des Hauses nahm es nicht wahr.

Als die knarrende Holztür verriet, dass das Vorhängeschloss geöffnet worden war, fühlte er sich, als würde das Leben in ihn zurückkehren.

Sie hatte ihn angewiesen, ruhig zu sein, sich nicht zu bewegen, solange sie fort war.

Erst nach ihrer Rückkehr gestand sie ihm zu, das Zimmer zu verlassen und ein Kind zu sein.

Die Tür wurde aufgestoßen und das Licht hinter ihr verwandelte sie in eine große, dunkle Silhouette, die energisch das Zimmer betrat. „Brian, mein Schatz! Mami ist zu Hause“, rief sie und ihre schrille, hysterische Stimme durchbrach die Stille.

Du bist nicht meine Mami, dachte Brian. Doch kein Wort verließ seine Lippen. Er saß bloß da, mit dem Rücken an das alte Bett gelehnt und starrte sie an. Sie schritt auf ihn zu, vergrub ihre Finger in seinem kleinen, noch immer mit Babyspeck behafteten Oberarm und zog ihn zu sich. Als sie ihn fest an sich drücke, versteifte er sich. Ihr grässliches Parfum stach ihm in die Nase und er versuchte vergebens, den Kopf abzuwenden und sich aus ihrer Umklammerung zu befreien.

„Komm mein Schatz, Mami hat dir etwas zu essen mitgebracht.“

In der Stube hob die Frau ihn auf den schweren Stuhl am Esstisch. Auf dem Teller vor ihm lag ein in Zellophan eingewickeltes Sandwich. Er mochte keinen Thunfisch, doch er hatte längst gelernt zu essen, was sie ihm vorsetzte. Die Frau konnte doch so schrecklich böse werden, wenn er nicht das tat, was sie sagte.

Artig entpackte er das Sandwich und biss ein Stück ab, ohne sich zu beklagen. Seine Augen folgten ihren Bewegungen, beobachteten, wie sie in der Küche Tee zubereitete. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Buddy zu. Ein kleines Lächeln ließ seine Mundwinkel nach oben wandern. Wie immer, wenn er ihn sah.

Der kleine, ausgestopfte Fuchs sah im Schein der Lampe aus, als würde er ihn neugierig ansehen. Das Fenster, das mit einer Milchglasfolie verklebt und viel zu hoch für Brian war, spiegelte sich in den großen, dunklen Pupillen des Tieres und verliehen seinem starren, toten Blick etwas Lebendiges.

Brian liebte den Fuchs, denn Buddy war sein Freund. Sein einziger Freund, der ihn seit jenem Tag begleitete, an dem die Frau, die sich selbst immer bloß „Mami“ nannte, ihn vom Spielplatz gelockt und mitgenommen hatte.

***

Heute

Brian zog den Kragen seiner Regenjacke höher, und die Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Regen prasselte unaufhörlich, als er sich seinen Weg durch das dichte Unterholz bahnte. Hinter der kleinen Lichtung befand sich das Haus, das ihm so viele Jahre gezwungenermaßen als Lebensmittelpunkt gedient hatte.

Mami war nicht mehr am Leben. Als das Einsatzkommando ihn damals befreien konnte, wurde sie von einem tödlichen Schuss niedergestreckt. Alles war so schnell gegangen, war wie ein Film vor den Augen des kleinen, verängstigten Jungen abgelaufen. Als die Beamten ihn aus dem Haus trugen, hatte er sich fest an einen kleinen, ausgestopften Fuchs geklammert, den er trotz der vielen Überzeugungsversuche nicht hergeben wollte.

Heute war dieser Tag bereits zwanzig Jahre her. Es war sein Ritual, sich am Jahrestag der Befreiung der Vergangenheit zu stellen – so wie seine Therapeutin es ihm geraten hatte.

Der kleine, ausgestopfte Fuchs saß derweil in Brians Wohnzimmer und wartete treu auf seine Rückkehr.

Er hatte Buddy nie mehr hergegeben.

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