Übermut tut Mensch nicht gut
Die letzten 135 Minuten hatten Sonja und Martin damit verbracht, im Warteraum der Notaufnahme möglichst nicht von den zerkratzten, aber dennoch rutschigen Plastikstühlen in Knallrot und Giftgrün abzugleiten, während Sonja gebannt abwechselnd auf die Anzeige über der Anmeldung und die Abrissnummer in ihrer Hand starrte. Martin hatte sich genervt abgewandt, das nicht zugeschwollene Auge geschlossen und war in beleidigtes Schweigen verfallen.
„Noch zwei Nummern, dann sind wir dran.“ Sonja beugte sich zu ihrem Mann. „Lass noch mal sehen“, bat sie. Es war zwar auch Interesse, vor allem aber der Versuch, das Schweigen zwischen ihnen nicht nur zu unterbrechen sondern auch zu beenden.
„Nein! Dir zeige ich heute gar nichts mehr!“, grollte Martin.
„Komm schon …“, seufzte Sonja. „Du bist doch nicht wirklich sauer auf mich!“
„Ach …“, winkte er ab, während er sich ein Kühl-Pad gegen die linke Schläfe hielt.
„Herr Knippig, bitte in Zimmer Drei“, ertönte es in diesem Moment aus dem neongrellen Gang neben der Anmeldung. Sonja erhob sich und bot ihrem Mann eine helfende Hand an, während der sich langsam vom unbequemen Stuhl erheben wollte, als jonglierte er ein rohes Ei auf dem Kopf. Die Hilfestellung seiner Frau ignorierte er.
Die Assistentin empfing die beiden an der breiten Tür zum Untersuchungsraum und gab erste Anweisungen: „Legen Sie sich bitte hierher.“ Und zu Sonja gewandt: „Sie können gerne dort Platz nehmen. – Herr Dr. Hufbauer ist gleich bei Ihnen.“
„Die Welt ist einfach ungerecht!“, grummelte Martin, während sie auf den Arzt warteten.
„Du tust gerade so, als wäre es Absicht gewesen!“, verteidigte sich Sonja. „Schließlich hast DU MICH herausgefordert!“
„Musstest du mich gleich schlagen?“, empörte sich Martin.
„Gekränkte Männlichkeit …“, wollte sie mit ihrer Standpauke beginnen, wurde aber jäh unterbrochen durch die Ankunft des Arztes, der soeben den Untersuchungsraum betrat und die schwere Schiebetür hinter sich zuzog.
„Ich bin Dr. Hufbauer und Sie sind …“ Er blickte auf sein Klemmbrett und las ab: „Martin Knippig; Platzwunde an der linken Schläfe; Schwellung am Auge; diverse Kratzer.“ Während er sich eingehend Martins Kopf widmete, versuchte er sich ein Bild der Lage zu machen. „Habe ich das eben richtig verstanden? Sie sind Ihrem Mann gegenüber handgreiflich geworden?“
„Wie kommen Sie denn darauf?!“, stammelte Sonja fassungslos.
„Er hat gesagt, Sie hätten ihn geschlagen!“
„Es ist nicht das, wonach es aussieht!“, verteidigte sich Sonja.
Das ist es angeblich nie, hätte Dr. Hufbauer am liebsten geantwortet, war jedoch professionell genug, zu schweigen. Stattdessen schlug er vor: „Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.“
Die Stille, die nun einsetzte, ließ ihn aufschauen. Die Wahrheit war den beiden offenbar unangenehm. Um die Beichte zu beschleunigen, begann der Arzt mit der Anamnese: „Was auch immer Sie getan haben, es sieht aus, als hätten Sie einen Schlag auf die Stirn bekommen.“
„Naja“, druckste Martin.
„Er ist mit dem Kopf gegen die Wand geprallt“, erläuterte Sonja.
„Gegen die Wand geprallt …“ wiederholte Dr. Hufbauer skeptisch.
„Meine Güte, Martin! Sag dem Doktor doch bitte endlich, wie es war. Der Mann glaubt, ich habe dich verprügelt!“
„Naja … Unser Sohn …“, druckste Martin herum. Wir haben ihm diese … Hüpflamas gekauft …“
„Hüpflamas.“ Dr. Hufbauer dachte, er hätte sich verhört.
„Ja, ein gelbes und ein grünes … Und weil er im Kindergarten war, dachten wir …“
„Es war DEINE Idee!“, fiel ihm Sonja ins Wort.
„… wollte ich wissen, ob …“, stammelte Martin kleinlaut. „… ob ich es noch kann.“
„Was?!“
„Hopsen.“
„Hopsen?“, echote Dr. Hufbauer erneut.
Martins flehender Blick zu Sonja stimmte sie milder. „Naja, wir haben uns zu einem kleinen Rennen den Flur entlang hinreißen lassen. – Und ich war halt schneller als er! Da hat er sich ins Zeug gelegt und irgendwie aufgeschaukelt. Es hat ihn nach vorne katapultiert und er ist mit dem Kopf gegen die Wand geknallt und dort abgeprallt.“
„Sie haben ihn also nicht geschlagen, Sie haben gewonnen … Bei einem Hüpflama-Rennen.“
Die beiden Erwachsenen nickten geknickt.
Als Frau Hufbauer an diesem Abend nach Hause kam, fand sie ihren Mann im Keller vor.
„Was suchst du denn?“
„Wir hatten doch mal so Hüpfbälle …“
„Die mit den Haltegriffen? – Was willst du denn damit?“, fragte sie neugierig.
„Ich habe da so eine Idee …“ grinste er.