Vom Nebelvolk
Ich weiß nun, wie sich Mammutkalb und Hirsch fühlen, wenn ich sie jage, denn jetzt sind wir es, die verfolgt werden. Der Nebel verschluckt alle Geräusche und lässt mich nur eine Armlänge weit sehen, dennoch spüre ich, dass jemand unseren Spähtrupp belauert. Mit einem Blick zu Aigo und Bulmar versichere ich mir, dass meine Gefährten es ebenfalls bemerkt haben. Ich wähle einen Speer aus und mache mich bereit, ihn auf den ersten Verfolger zu werfen, den ich entdecke. Meine Hand verkrampft sich um die Waffe. Laufen wir in eine Falle? Es ist ein unsägliches Gefühl, nach sieben Jahren als Jägerin nun selbst Beute zu sein.
Aigo rennt los und wir folgen ihm. Bäume tauchen auf und verschwinden wieder. Dann reißt die weiße Wand auf und wir stehen auf einem Berggipfel, unter uns erstrecken sich die Nebelwolken. Ich wirbel herum und sehe den Feind.
Vier Gestalten gleiten aus dem Unterholz. Kälte umschließt mein Herz, denn was vor mir auftaucht, gehört weder dem Alten Volk an, noch unserem Neuen Volk. Bleich sind sie, wie der Nebel, aus dem sie kommen. Ihre Ohren sind spitz und in ihren Händen halten sie Äste, die sie mit Sehnen nach hinten biegen, zwischen Strang und Holz balancieren sie kleine Speere.
Schweigend stehen wir uns gegenüber, die Waffen gegeneinander gerichtet. Meine Hände zittern. Wie wird es sein, wenn ich gleich diese Welt verlassen muss? Brauche ich danach noch Angst vor Hunger und Frostbiss zu haben? Bringt mich die Weiterreise an einen freundlicheren Ort? Der Gedanke nimmt ein wenig die Anspannung. Plötzlich senken die Fremden ihre gebogenen Äste und wir unsere Speere. Ich will zugleich lachen und weinen.
Wärme lässt meine Haut prickeln, während ich vor dem Feuer sitze, auf dem die Fremden ein Reh braten. Mir gegenüber holt eine von ihnen einen Flügelknochen aus ihrer Fellkleidung und hebt ihn an ihre Lippen. Dann beginnt sie, Löcher im Knochen mit ihren Fingern zu bedecken und Töne erklingen. Es erinnert mich an einen Sonnenaufgang oder das Funkeln von Schnee zur Mittagszeit. Doch diese Schönheit erschafft die Namenlose selbst, für sich und uns. Es ist ein größeres Wunder, als die gebogenen Äste. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Allein für diese Klänge lohnt sich ein weiterer Tag in dieser kalten Welt.
Als ich erwache, kauert Aigo neben mir. Um uns herum schlafen die anderen. Ich erinnere mich, wie die Fremden nur das Gehirn und Knochenmark gegessen haben. Wir bekamen alles Fleisch, von dem wir einiges mit Stricken zusammengebunden haben, um es zu unserem Stamm zu bringen.
„Was ist?“, flüstere ich.
„Hier endet unsere Erkundung“, raunt Aigo. „Wir kehren zurück und warnen die anderen, nicht in diese Richtung zu ziehen.“
Fassungslos starre ich ihn an. „Wir haben neue Freunde gefunden!“
„Die Spitzohren sind geschickter als wir. Wir werden nicht gegen sie bestehen können, wenn der Winter kommt und das Wild knapp wird.“
„Aber sie haben ihr Essen mit uns geteilt und sie besitzen Fertigkeiten, die wir nicht kennen.“ Verzweiflung steigt in mir auf.
„Wir nehmen einen der gebogenen Äste mit uns und bringen uns diese Kunst selbst bei“, knurrt Bulmar hinter mir.
„Wieso sollten wir …“
„Sie sind nicht unseresgleichen und sicher nicht so leicht zu verdrängen wie das Alte Volk. Sie sind … Nebelvolk.“ Aigo steht auf und greift nach einem der gebogenen Äste und zwei der kleinen Speere.
Leise schleichen wir uns davon. Wie viel Gutes hätte aus diesem Treffen entstehen können? Niedergeschlagen sehe ich zurück und bemerke, wie eine der Fremden aufsteht und auf mich zu kommt. Ich hebe einen Speer. Soll ich zustechen, bevor sie Alarm schlägt? Aber ich bringe es nicht über mich. Nicht nach diesem Abend.
Die Namenlose streckt ihre Hand aus und reicht mir den Flügelknochen. Zögerlich nehme ich ihn entgegen und senke beschämt den Kopf, denn ich kann ihn mit nichts vergelten. Mit wie vielen Fellen kann man Schönheit aufwiegen, die man selbst erschaffen kann? Aber ich bin entschlossen, dieses Geschenk aufzubewahren und damit zu üben. Sollten wir uns nicht mehr begegnen, dann soll wenigstens der Klang des Nebelvolkes uns begleiten und meine Nachkommen davon träumen lassen, welche weiteren Wunder wir uns selbst verweigert haben.