Von beigen Flicken und einem verwelkten Blumenstrauß
Als er sich die Treppenstufen emporhievt, denkt er an sie.
Als er mit zittriger Hand versucht, seine Wohnungstür aufsperren, denkt er an sie. Tür 17, 2. Stock. Die Lampe über seinem Eingang hat er eigenhändig angeschraubt, auch wenn sein Vermieter das nicht genehmigt hatte. Doch ihr Licht erinnerte ihn an sie.
Als der Schlüssel endlich das Schloss findet, die Türe knarzend aufspringt und ihm Einblick in den düsteren Hausgang gewährt, der stillschweigend dahinterliegt, denkt er an sie.
Denkt er an sie, wie ihre Kerzen einst diesen Flur hell erleuchteten, wie ihre Stimme seine nun leeren Wände entlang hallte, die zuvor mit ihren wunderschönen Gemälden behängt waren und das Echo ihrer schnellen Schritte abfingen, wenn sie voller Vorfreude den Korridor entlanglief, um ihn mit einer ihrer wärmsten Umarmungen zu begrüßen.
Er denkt an sie, als er den Lichtschalter umlegt und die einst grelle Glühlampe ihre trüben Strahlen durch den Raum schickt, er sich hinter den kleinen, quadratischen Holztisch fallen lässt, dessen Oberfläche von dem Lichtkegel beleuchtet wird, sie die Protagonistin in dem Bühnenbild ihrer eigenen Geschichte, die Schatten auf ihr tanzend, als er sich über sie wirft, der Vorhang nach unten gleitet und das Licht seinen Oberkörper bestrahlt, sein gedankenzerborstener Kopf auf der kalten Tischplatte neben dem verwelkten Blumenstrauß zum Liegen kommt.
Er denkt an sie, als er aufschluchzt und er denkt an sie, als er wimmert, seine Gedanken sind nur bei ihr, als er sich erhebt und mit den Handrücken die Tränen beiseite schiebt, sie sein Kinn hinabrinnen und sich in seinem Oberteil verlieren.
Paul denkt an sie, als er mit fahrigen Fingern die Bildergalerie in seinem Smartphone aufruft und wenig später ihr wunderschönes Gesicht vor sich hat. Ihr Lächeln, dass nicht von dieser Welt schien, so schön wie es war, strahlend, es erhellte augenblicklich sein Gemüt, ließ ihn selbst seine Mundwinkel nach oben ziehen.
Leilanis Lächeln war nicht von dieser Welt. Das Strahlen darin, es glich den hellsten Sternen, unter denen sie gemeinsam lagen, auf ihrer rot-weiß karierten Picknickdecke mit den beigen Flicken, die sie bis spät in die Nacht auf das zerfetzte Stück Stoff montiert hatte, vor ihrer Nähmaschine in ihrem kleinen Stübchen sitzend, mit einem Tee bei sich und Musik in den Ohren.
Leilani war so unfassbar schön. Ihre Augen ließen ihn alles vergessen – all die Schmerzen, die er fühlte, als sein Vater starb und all die Schmerzen, die er fühlte, als seine Mutter es seinem Vater gleichtat und all die Schmerzen, die er während der Chemotherapie hatte und all die Schmerzen, die er fühlte, als sein bester Freund sich mit dem Auto überschlug und nie wieder mit ihm ein kühles Feierabend Bier trank. Leilani heilte all diese Schmerzen, die seine seelischen Wunden hervorriefen, flickte sein Herz mit dem Garn der Liebe wie sie es mit den beigen Flicken und der Nähmaschine tat. Nur einmal konnte sie nicht seine Schmerzen tilgen, und dass war, als sie selbst ging.
Leilani – das ist hawaiianisch und bedeutet so viel wie “Blume des Himmels”. Paul fand die Bedeutung ihres Namens immer genauso schön wie seine Trägerin. Bis zu dem Tag, als er feststellen musste, wie bittersüß sie war, nein, wie schrecklich, denn von diesem Tag an, da war sie keine himmlische Blume, die auf Erden wandelte und seinen Lebenssinn erblühen ließ, sondern tatsächlich eine Blume, die von nun an im Himmel weilte. Ohne ihn.
“Himmelskind” hatte Leilanis Mutter sie genannt. Er hat sie nie kennengelernt, aber Paul ist sich sicher, dass sie es auch gesehen hat. Das engelsgleiche Wesen, diese reine Seele, die ihre Tochter in sich trug, dieses graziöse Antlitz, das mehr war, als das Köpflein einer Blume: es war das Paradies selbst.
Er denkt an sie, als er sich in das kalte Bett legt, den Bilderrahmen an seine Brust drückt und sich seinem Körper hingibt, der zittert und erbebt und es ihn schüttelt, so sehr schmerzt ihn das Foto in dem schwarzen Bilderrahmen mit dem schwarzen Band.
Er denkt an sie, an seine Blume, als er die Augen schließt und ihr Gesicht vor sich hat. Ihr wunderschönes Gesicht, das er heute auf den Tag genau seit 15 Jahren, 4 h und 32 Minuten nicht mehr gesehen hat.