Unterm Apfelbaum
»Weißt du, was ich an dir liebe?«, fragte Leah mit einem Funkeln in den Augen.
Paul grinste. »Natürlich, meinen Traumkörper, was denn sonst?«
Sie kniff ihn in den Oberarm. »Du wieder. Das war eine ernst gemeinte Frage!«
»Also gut, ich nehme an, du magst meinen Humor.«
»Den auch – aber ich liebe dich, weil wir hier schweigend auf dieser Bank sitzen können und es sich anfühlt, als würden wir uns unterhalten. So, als gäbe es zu wenig Zeit für all die Dinge, die wir uns erzählen möchten. Weißt du, was ich meine?«
»Hm, irgendwie schon. Ich liebe dich auch!« Paul küsste sie auf die Stirn.
Wenn Leah wüsste, dass er bereits Pläne für den heutigen Tag hatte und deshalb so schweigsam war, würde sie das vielleicht anders sehen. Aber das spielte keine Rolle. Sollte sie in dem Glauben bleiben, sie würde noch früh genug erfahren, was auf sie zukam.
Als zwanzig weitere schweigsame Minuten vergangen waren, in denen jeder seinen eigenen Gedanken nachging, schnaufte Paul hörbar. Er ließ ihre Hand los, die wie festgewachsen in seiner gelegen hatte und rückte ein Stück von ihr ab. Leah sah in fragend mit hochgezogener Augenbraue an. Paul stand auf, ging ein Stück zurück und stoppte sie noch mitten in der Frage danach, was er vorhatte. Als Leah ihn auf die Knie sinken sah, ahnte sie erst im zweiten Moment, was auf sie zukommen könnte.
»Leah, du bist die Liebe meines Lebens. Ich möchte keinen einzigen Tag mehr ohne dich verbringen, bis in alle Ewigkeit!« Er griff in seine Hosentasche, zog ein kleines samtenes Kästchen hervor und öffnete es. »Leah, willst du meine Frau werden?«
Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie fühlte sich überrumpelt, nicht korrekt gekleidet und zu allem Überfluss noch nicht einmal geschminkt! Wollte sie? Natürlich! Aber jetzt schon? Mit bebender Stimme antwortete sie: »Ja, ich wi …«, und im selben Moment sauste ein zuvor über ihr hängender Apfel vom Baum. Es gab ein lautes Klonk, als er ihren Kopf traf. Leah verdrehte die Augen. Der Schmerz, den der Apfelschlag ausgelöst hatte, war unerträglich und sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, sah sie in die besorgten Augen von Paul und flüsterte: »Will.«
»Will? Wer ist Will? Ich bin es, Paul!« Er sah sie sorgenvoll an, da sie ihn nicht zu erkennen schien. Ein leises Grummeln bildete sich in seiner Magengegend. Dass ein blöder Apfel einen Menschen so außer Gefecht setzen konnte, war doch gar nicht möglich!
Mühsam holte Leah Luft und unternahm einen neuen Anlauf: »Ich will«, flüsterte sie.
Er sah sie etwas irritiert an, bis er endlich begriff. Ein breites Lächeln entblößte seine makellosen Zähne. Sie will!, dachte er und versuchte die auf der Parkbank liegende Leah, seine zukünftige Ehefrau, zu umarmen. Das stellte sich schwieriger dar als gedacht. Er senkte seinen Kopf an ihr Ohr und flüsterte: »Du willst! Ich liebe dich!« Seine Lippen legten sich sanft auf ihre und damit besiegelten sie ihre Zukunft. Dieser Kuss ließ Leah sogar ihre Schmerzen vergessen. Selbst der Ring war in diesem Moment zweitrangig.
***
Ich sitze auf der Parkbank und sauge die warme Sommerluft in mich ein. So viele Jahre ist es nun schon her, als ein Apfel unsere Zukunft besiegelte. Zumindest sahen wir es immer so, der Apfel war das Symbol für unsere Liebe. Weißt du noch, Paul, wie sich andere darüber amüsierten? Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Ja, neutral betrachtet, war es schon lustig.
Heute bin ich mit unserem Enkelkind hier und erzähle unsere Geschichte. Sie fragt aufgeregt nach, möchte alles wissen. Dabei schaut sie immer wieder ängstlich nach oben, ob sich nicht auch jetzt ein Apfel vom Baum löst.
Auch wenn du nicht mehr bei mir bist, diese Erinnerung wird bleiben – bis in alle Ewigkeit!