Ein Bild
Gerümpel türmte sich vor dem kleinen Einfamilienhaus am Ortsrand einer bäuerlich geprägten Gemeinde. Arbeiter schleppten Möbel für Möbel durch die Haustür nach draußen, durch die Nea als kleines Kind hunderte Male gelaufen war. Damals waren die Fenster mit Blumen geschmückt. Prächtig hingen ganze Ranken mit großen, violett leuchtenden Blüten von den Holztrögen herab. Bienen tummelten sich um sie und sammelten auch im groß angelegten Garten gerne Nektar. Nicht selten war es vorgekommen, dass Nea in ihrer kindlichen Eile auf eine Biene getreten und sich einen schmerzhaften Stich zugezogen hatte.
„Nur ein Bienchen, Nelchen, will dir nichts Böses! Sie hat nur um ihr Leben gefürchtet und sich gewehrt! Ist gleich wieder gut“, hatte ihre Oma ihr damals beruhigend ins Ohr gehaucht und sie tröstend in die Arme geschlossen. Nea war vorgekommen, dass durch Omas Umarmung die auf den Stich gepresste Zwiebel wirklich zu wirken begann und den Schmerz linderte.
Oma.
Nichts konnten den Schmerz jetzt lindern. Es gab keine Oma mehr, die Zwiebeln auf schmerzende Stiche drückte.
Oma war tot und dass Omas Haus einfach ausgeräumt wurde, war, als hätte ein Bienenschwarm Neas Herz zerstochen.
Ihr Bruder Marvin war als Hauserbe hervorgegangen und alle Verhandlungsgespräche mit ihm waren erfolglos geblieben. Er wollte unbedingt eine moderne Note auf das Haus legen, umbauen, umgestalten; vier Wochen nach Omas Tod.
„Schau nicht wie der Bock um zwölf“, rief er oben vom Balkon, hievte eine kleine Kommode über das Geländer und erfreute sich sichtlich daran, wie das alte Möbelstück im Restmüllcontainer darunter aufschlug und zerbarst.
Nea antwortete nicht, kämpfte nur mit den aufsteigenden Gefühlen. Da war Trauer und vor allem so viel Hass gegen Marvins egoistisches, herzloses Handeln. Sie war sich sicher, dass Gegenstände mit den Jahren zusammenwuchsen, eine beseelte Einheit bildeten. Man durfte diese Bindung nicht auf solch grobe Art und Weise zerreißen. Auch Oma hätte das nicht gewollt.
Marvin erschien mit weiteren Gegenständen in der Balkontür. Ein Schminkspiegel, ein Kleiderhaken und …
„Nein, nicht!“, brüllte sie und stürmte auf den Container zu, um diesen einen bestimmten Gegenstand auffangen zu können, wenn er ihn gleich achtlos nach unten warf.
„Nicht Omas Bild!“ Das Bild, weswegen Nea heute hierhergekommen war.
„Welches Bild?“, fragte er, „Da hängen unzählige.“
„Das Engelsbild, Marvin. Ich habe akzeptiert, dass du alles von Oma vernichtest, weil es dir nicht gefällt, aber bitte gibt mir dieses Engelsbild.“
„Dieses hier?“ Marvin hielt ein in Gold gerahmtes Bild in die Höhe. Ein Engel saß darin und schaute unergründlich.
„Oma wollte, dass ich es bekomme. So steht es sogar im Testament.“
Marvin beäugte das mindestens hundert Jahre alte Bild skeptisch, dann stieß er es wie ein Frisbee von sich.
Nea warf sich gerade noch rechtzeitig auf den Rasen und fing es auf.
Marvin soll das Haus haben, er hat kein Auge für den wahren Wert der Dinge. Du aber sollst dieses Bild bekommen. Es sieht unscheinbar aus, vielleicht wirst auch du hin und wieder daran zweifeln. Hüte es gut! Du wirst erst später verstehen, welchen Wert es wirklich hat.
‚Danke Oma‘, dachte sie und verließ den Ort der Zerstörung.
Was war wahrer Wert wirklich? Eine unbeseelte Liegenschaft? Oder ein Geschenk von Herzen? Ein letztes Mal blickte sie zurück und in Marvins habgierige Augen, die sie abfällig musterten.
Zumindest Nea konnte die Antwort in ihrem Herzen spüren.
Erst viele Jahre später sollte sie durch Zufall erfahren, dass ihre Großmutter ihr nicht nur ein sehr persönliches Geschenk gemacht hatte, sondern sie ihr ein sehr gefragtes, überaus teures Bild vererbt hatte, das Marvins Erbe bei weitem übertroffen hatte.