Diese Geschichte schrieb @caro.grimm.autorin Fantasy

Einmal noch

»Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Leben ich gelebt habe«, hauchte sie und starrte auf das wogende Gold, das sich bis zum Horizont erstreckte.

Der Wald in ihrem Rücken hielt sie in der tröstenden Kühle seiner Umarmung. Schon seltsam. Damals hätte sie alles darum gegeben, um dem Wald zu entfliehen. Doch heute …. Heute wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sie die Zeit zurückdrehen und wieder unter den Fichten wandeln konnte. Allein mit sich und dem Wald.

Die Ähren des Feldes tanzten in der sommerlichen Brise. Gaukelten reine Freude vor, die sie nicht spürte.

»Wann habe ich das letzte Mal gelacht?«

Auch darauf fand sie keine Antwort.

Die Sonne stahl sich ab und an unter der dichten Wolkendecke hervor.

Flüsterte und lockte. »Komm«, säuselte sie, »es ist Zeit.«

Zeit. Welche Bedeutung hatte Zeit, wenn man ein Leben nach dem anderen, nach dem anderen, nach dem anderen … lebte? Eher hinter sich brachte.

»Ich möchte nicht«, hauchte sie der Sonne entgegen. »Lass mich noch ein wenig verweilen. Bitte.«

»Das geht nicht. Du hast deinen Soll noch nicht erfüllt.«

Hatte sie nicht? Warum fühlte es sich dann so an? Als wäre sie ausgelaugt, obwohl sie es nicht sein dürfte. Als hätte sie alle Leben gelebt, zu denen sie verpflichtet war.

»Aber das hast du nicht. Noch nicht«, flüsterte die Sonne und kurz bildete sie sich ein, eine Spur Boshaftigkeit in dem warmen Klingen ihrer Stimme zu vernehmen.

»Wenn ich das Feld betrete, kann ich nicht zurück. Ich muss das Leben leben, das du mir gibst. Und ich weiß nicht, ob ich es kann. Die anderen waren so …« Sie stockte. Wie waren sie gewesen? Anstrengend? Schmerzhaft? So genau wusste sie es nicht mehr. Die Erinnerung war ein grauer Nebel, durchsetzt von farbigen Fetzen. Ein Mosaik, das sie nicht zusammensetzen konnte. Sie wusste nicht, wie viele Leben sie schon gelebt hatte.

»Das Leben ist bisweilen viel Arbeit, ich weiß. Aber das ist es doch wert, findest du nicht, Seele? Du hast so viele Leben gelebt und jedes war anders. Du hast viele Menschen berührt und sie dich. Auch, wenn du es nicht mehr weißt. Und wenn du all deine Lebenswege durchschritten hast, dann kannst du zurück in den Wald. Schlafen und Träumen. Aber jetzt musst du diesen einen Schritt tun. Einen Schritt nur in das warme Lebensfeld. Ein Leben mehr auf der Liste – oder weniger, je nachdem, wie du es sehen möchtest.«

Seele blickte zurück in die kühlen Schatten des Waldes. Hörte das verheißungsvolle Flüstern, das ihr Ruhe und Frieden versprach. Einmal noch, schien er zu raunen.

Einmal noch.

»Trau dich, Seele.« Sonnes Stimme umgab sie wie ein wärmender Kokon, schien sie sacht auf das Feld zu schieben. Die Ähren wogten ihr entgegen, umschlossen sanft ihren Körper.

»Hallo Seele, da wartet schon jemand auf dich«, wisperte das Feld.

Die Wärme der Sonne und des Feldes erfüllten Seele ganz und gar und ließen sie den Nebel der letzen Leben vergessen. Stück für Stück.

»Gute Reise«, murmelte Sonne an ihrem Ohr und setzte einen brennen Kuss auf ihre Brust.

Das Licht war grell, stach in ihren Augen, die Umgebung war kalt. Alles hier war zu laut und zu schnell. Seele öffnete den Mund, holte tief Luft – und schrie. So laut, wie sie noch nie in diesem Leben geschrien hatte.

Hände umfassten sie, wickelten sie in etwas Warmes, Weiches. Reichten sie von einem Paar Hände in das nächste.

Warme Haut. Ein Herzschlag. Und da war sie wieder: Die Wärme der Sonne. Endlich zu Hause.

»Wir haben so lange auf dich gewartet, mein Kind.«