Diese Geschichte schrieb hangaia.de @hangaia_chroniken Familienroman

Großmutters Wunsch

Ich starre auf das alte Bild aus dem Tagebuch meiner Großmutter. Das Polaroidbild ist so alt, dass bereits alle Farben verblasst und das Papier vergilbt ist. Dennoch wollte ich diesen Ort unbedingt finden. Nein, ich musste ihn finden. Es war immerhin ihr letzter Wunsch, dass ich an den Anfang zurückkehre. Zwar wusste ich nicht, was das bedeuten soll, doch sobald ich diesen Pfad im Wald entlanggehen würde, so war ich mir sicher, würde alles Sinn ergeben.

Das Bild senkend, wendet sich mein Blick nun meiner Umgebung zu. Links von mir befindet sich ein weites Feld, es blüht in den unterschiedlichsten Farben und streckt sich der Sonne entgegen. Auf der anderen Seite ist ein dichter Wald. Die Baumreihen sind so gleichmäßig, dass bereits auf den ersten Blick klar wird, dass er von Menschenhand gesetzt wurde. Dennoch ist er wunderschön und regt meine Fantasie an.

Doch im Grunde ist das einzig Interessante für mich der Pfad, auf dem ich bereits laufe. Er sieht aus wie auf dem Polaroid. Es ist nicht nur ein ähnlich gewundener, sondern derselbe Kiesweg. Das spüre ich einfach.

Doch das Verstehen um Großmutters Wunsch bleibt aus. Noch immer ergibt es keinen Sinn, weshalb sie unbedingt wollte, dass ich ausgerechnet hierher komme. Oder bin ich bereits zu spät?

Den Kopf schüttelnd, um meine Gedanken von Zweifeln freizubekommen, folge ich dem Pfad weiter. Das Bild halte ich dabei ganz fest in meiner Hand. Der Kies unter meinen Füßen knirscht bei jedem Schritt und ich höre in der Ferne Vogelgezwitscher.

Es hat lange gedauert, diesen Ort zu finden. Nach Großmutters Tod bekam ich ein Paket von ihr, mit einem Brief und ihrem Tagebuch. Sie schrieb, dass es nun Zeit wäre, doch nicht wofür. Also las ich das Buch und fand das Bild. Sie hatte es mir oft gezeigt, deshalb wusste ich gleich, dass es wichtig ist. Und mit Hilfe der Geschichten in ihrem Tagebuch folgte ich ihren Schritten. So nahe war ich ihr schon lange nicht mehr.

Und schließlich kam ich hier an.

Überrascht blicke ich auf das Haus am Ende des Kiespfads. Es besteht aus Holz und sieht robust gebaut aus. Blumenkästen säumen die Fenster, hinter denen Licht brennt. All meinen Mut zusammennehmend gehe ich auf die Veranda zu und klopfe, oben angekommen, an die Tür.

Zuerst reagiert niemand, dann jedoch kann ich hören, wie sich jemand der Tür nähert. Es sind schwere Schritte, welche die Balken zum Knarren bringen. Sie kommen kurz vor mir zum Stillstand und die Tür öffnet sich.

Ich hatte nicht erwartet ausgerechnet ihm ins Gesicht zu blicken. Wir haben uns vor Jahren aus den Augen verloren. Doch vielleicht hat meine Großmutter mich genau deshalb hierher geschickt. Um ihretwillen sage ich: «Hallo Brüderchen, es ist lange her.»

Sein Blick ist erst verwirrt, dann scheint er zur gleichen Erkenntnis zu kommen wie ich.

«Sie hat dir auch ein Paket geschickt, oder?», fragt er und seufzt. Dann bittet er mich herein.

Das Haus ist gemütlich und warm, nicht nur von der Temperatur her, sondern auch vom Einrichtungsstil. Es lädt dazu ein, zu verweilen. Zur Ruhe zu kommen. Wir gehen in die Essküche und ich setze mich auf einen der Stühle. Er bietet mir einen Tee an und Kekse. Schließlich setzt er sich ebenfalls und wir schweigen, während der Wasserkessel vor sich hin köchelt.

Erst als jeder von uns einen Becher heißen Tee in der Hand hält, breche ich die Stille.

«Es tut gut dich wiederzusehen. Wie geht es dir?»

Er kratzt sich am Kopf und sagt: «Scheiße, aber es wird jeden Tag ein kleines bisschen besser.»

Nach einer Weile fängt er an, mir von seinem Leben zu erzählen und im Gegenzug teile ich meines danach mit ihm. Es dauert viele Stunden, bis wir die letzten zwanzig Jahre aufgeholt haben, doch am Ende fühlen wir uns wohl beide erleichtert.

Es ist schon spät und die Sonne längst untergegangen. Er bietet mir an, die Nacht auf der Couch zu verbringen. Ich bleibe.

Und auch wenn ich morgen wieder gehen muss, weiß ich doch, dass ich den Kiesweg nicht zum letzten Mal gegangen bin. Beim nächsten Mal würde ich ihn allerdings nicht für Großmutter gehen. Auch nicht für die Vergangenheit.

Sondern für meinen Bruder, für mich und für einen neuen Anfang.