Sonnenküsse
Oberhalb der Wolken strahlte die Sonne und schimmerte wie in ein Meer aus Watte getaucht in Orange und Gelb. Ein Schatten flitzte darüber hinweg. Ein Mensch mit türkisen Haaren und Drachenflügeln. Sanjo liebte es, über die Wolken zu fliegen und einfach frei zu sein. Hier konnte sie die Freiheit erleben. In ihren Träumen war niemand, der ihr sagte, sie sei zu dick, zu mies gelaunt oder hielt ihr vor, wie perfekt doch ihre Zwillingsschwester sei.
Man könnte zwar auch sagen, so allein sei es einsam, aber gerade dies mochte Sanjo am meisten.
Sie schlug mit den Flügeln, streckte ihre Finger in das Wolkenmeer, das sie warm umfing. »Wie von der Sonne geküsst«, kam ihr in den Sinn. Immer weiter flog sie. Ein weiterer Vorteil ihrer Träume war, dass es hier kein Ende gab. Wollte sie mehr Wolken, so dachte sie daran und schon waren noch unzählige mehr vor ihr. Wenn sie sich in Gedanken einen Wasserfall wie bei Avatar vorstellte, so tauchte er wie magisch vor ihr auf. Samt der Wesen, den Blumen und allem, was im Film zu sehen ist. Nur Menschliches ging nicht. Entweder lag es daran, dass Sanjo es zu sehr liebte, allein zu sein, oder weil ihre Vorstellungskraft nicht ausreichte. Sie hingegen hatte sich schon in einen Navi verwandelt und war mit einem Banshee über die Wolken geflogen. Aber so, wie sie es gerade machte, war ihr um einiges lieber.
Sie glitt tiefer durch das warme Nass der Schwaden in Richtung Erde. Dort war es kahl, als wenn dort ein riesiges weißes Blatt liegen würde. Sie schloss ihre Lieder und dachte ans Meer. So wie dass, wo sie vor vielen Jahren mit ihrer Familie gewesen war, so schimmernd wie ihre Haare. Sie musste lächeln, als sie sich erinnerte, wie sie sich vorgestellt hatte, eine Meerjungfrau zu sein. Schon spürte sie, wie ihre Beine sich verbanden. Als sie hinsah, stellte sie entzückt fest, dass sie nun eine Fischflosse hatte, die türkis glitzerte.
Schon tauchte sie sanft in das kühle salzige Meer ein. Delphine und Orcas kamen angeschwommen und sie spielte mit ihnen fangen.
Langsam merkte sie, dass ihr Körper unruhig wurde. Inzwischen kannte sie diese Anzeichen. Bald würde sie aufwachen und müsste diesen Ort verlassen. Sie schwamm weiter, stellte sich einen Strand vor, der nicht unweit erschien. Je näher sie diesem kam, umso weniger war sie noch eine Meerjungfrau. Gemächlich trat sie aus dem Wasser. Palmen wehten im Wind. Sie streckte sich und fühlte sich glücklich. Am liebsten würde sie immer schlafen und für stets hier bleiben, aber das ging nicht.
Plötzlich hörte sie etwas hinter sich, was wie ein Knacken klang. Sie drehte sich verwundert um. Das letzte, was sie sah, war ein junger Mann mit schwarzen Haaren und honiggelben Augen.
Keuchend wachte sie auf. War da wirklich ein Mensch in ihrem Traum? Oder hatte sie sich das eingebildet?
»Sanjo, Schule!«, schrie ihre Schwester den Flur entlang. Seufzend stand sie auf und schüttelte den Gedanken ab. Dieser Mann musste Einbildung sein. Noch nie war jemand dort gewesen. Warum sollte da auf einmal irgendwer sein?
Doch den ganzen Tag schweiften ihre Gedanken immer wieder zu ihm. Wie konnte sie sich jemanden vorstellen, den sie noch nie gesehen hatte? Oder hatte sie ihn schon mal bei einer ihrer Reisen gesehen und unterbewusst wahrgenommen? Aber wenn das so war, warum konnte sie sich nun auf einmal Menschen erträumen?
Nachdem sie sich abends ins Bett legte, wollte ihr Körper nicht zur Ruhe kommen. Zappelig drehte sie sich hin und her. Sie trank Milch, machte Atemübungen und bewegte sich, aber nichts half. Als wenn ihr Körper nicht wollte, dass sie wieder träumte. Der letzte Blick auf die Uhr zeigte die Zahl Fünf an. Noch gut eine Stunde, dann müsste sie aufstehen.
Absolute Stille ließ sie die Lider öffnen. Sie war endlich eingeschlafen und im weißen Nichts angekommen. Lächelnd stand sie auf. Wie immer, wenn sie in ihren Träumen ankam, war es ein Wald, mit Vogelgezwitscher und allem, was dazu gehörte, den sie sich erträumte. Sie dachte an den jungen Mann, aber sie blieb allein. Egal, wie fest sie an ihn dachte, niemand erschien. »Doch nur ein Hirngespinst«, sagte sie leise.