Tütensuppe
Als ich sie das erste Mal sah, stand sie vor dem Regal mit den Fertiggerichten. Sie ist mir gleich aufgefallen, weil sie aussah wie jemand, der nicht weiß, was er tut. Ein bisschen wie Falschgeld. Vielleicht auch ein bisschen fehl am Platz. Irgendwie fremd. Wie eine Außerirdische, die einen Supermarkt betritt, um zu sehen, wie sie denn so sind, diese Menschen. Eben so, als hätte sie noch nie eine Tütensuppe gekauft.
„Kann ich dir helfen?“, frage ich vorsichtig.
„Äh, was, wie bitte, nein, danke, alles ok, ich komm schon klar“, stottert sie.
„Das sieht aber irgendwie nicht so aus“, sage ich.
Sie zupft nervös an ihrer Jacke. Ich lächle sie zaghaft an und hoffe, dass das aufmunternd wirkt und sie mich nicht für verrückt hält.
„Ich war nur in Gedanken und habe kurz vergessen, warum ich hier bin“, antwortet sie und greift nach einer Tüte. Dabei wirkt sie ziemlich wahllos. Ich bin sicher, sie hat keine Ahnung, was sie da in der Hand hat.
„Champignoncrème, gute Wahl!“, sage ich deshalb und grinse. Jetzt starrt sie auf die Tüte in ihrer Hand und verzieht das Gesicht.
„Pilze mag ich überhaupt nicht“, sagt sie und stellt die Tüte zurück ins Regal.
„Lassen Sie mich raten, eigentlich mögen Sie gar keine Tütensuppen und würden auch niemals welche kaufen, oder?“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragt sie erstaunt zurück.
„Weil Sie so aussehen, als stünden Sie zum ersten Mal vor diesem Regal.“
„Stimmt.“ Sie grinst, aber ihr Grinsen zerfällt so schnell wie es gekommen war. Ihre Miene verdunkelt sich. „Ich habe noch nie allein eingekauft, aber ich schätze, daran muss ich mich ab jetzt gewöhnen.“
„Warum?“ Ich sehe sie erstaunt an. Ich habe noch nie eine Person getroffen, die es nicht gewohnt war, allein einzukaufen.
„Ich möchte nicht darüber sprechen.“ Jetzt sieht sie wirklich traurig aus. Und ziemlich hilflos, fast wie ein Kind.
„Aber ich könnte dir helfen. Du musst nichts erzählen. Wir könnten einfach zusammen einkaufen und ich zeige dir, wie es funktioniert.“
„Ok“, antwortet sie zaghaft. Sie wirkt nicht überzeugt.
„Was isst du denn gern?“, erkundige ich mich.
„Ich weiß nicht“, antwortet sie vorsichtig.
„Nudeln? Oder Reis? Oder vielleicht Gemüse?“
„Ja, schon“, sagt sie und so langsam wird mir klar, dass das Einkaufen nicht ihr einziges Problem ist.
„Du hast keine Ahnung, wie man kocht, oder?“, frage ich deshalb.
Sie blickt zu Boden. Dann nickt sie.
„Ich kann dir zeigen, wie es geht. Es ist nicht so schwierig wie es wirkt.“
„Ich weiß nicht“, antwortet sie und jetzt scheint sie wirklich völlig überfordert zu sein. Tränen rollen lautlos über ihre Wangen.
Ich mache einen kleinen Schritt auf sie zu. Nur einen ganz kleinen, nicht zu viel. Ich will sie nicht bedrängen.
„Was ist los?“, frage ich leise.
„Ich weiß nichts über das normale Leben“, beginnt sie zögerlich. „Ich durfte das Haus nicht verlassen und wurde ständig beschützt. Mein Vater ist sehr reich und lebt in ständiger Angst, ich könnte entführt werden. Für alles gab es Dienstboten. Ich habe das nicht mehr ertragen, ich will doch endlich mal etwas erleben!“
„Also bist du ausgerissen?“
Sie nickt. „Ich habe mich in den Wäscheschacht fallen lassen und wurde mit der Wäsche abtransportiert. Niemand hat es bemerkt.“
Da wurde mir klar, wo ich diese Frau schonmal gesehen hatte. In den Nachrichten! Bei einer Fahndung. Ihr Vater hatte eine sehr hohe Belohnung ausgesetzt für die Person, die seine Tochter nach Hause zurückbringt. Inzwischen hatte sie zwar ihr langes, blondes Haar gegen eine dunkle Kurzhaarfrisur getauscht, aber das Gesicht hatte ich mir gemerkt.
„Jetzt weiß ich!“, entfährt es mir.
„Bitte verrate mich nicht!“ Ängstlich schaut sie mich an. Jetzt fragt sie sich vielleicht, ob sie mir zuviel anvertraut hat. Nervös scheint sie schon die Umgebung nach einem Fluchtweg abzuscannen. Ich lege ihr meine Hand auf den Arm.
„Entspann dich!“, sage ich. „Ich werde dich nicht verraten. Niemals. Ich hab zwar keine Ahnung warum, aber ich habe wirklich Lust, dir bei deinem neuen Leben zu helfen.“
In diesem Moment schenkte sie mir das erste Lächeln. Im Supermarkt. Vor dem Regal mit den Tütensuppen.