Der letzte Wunsch
Karl strich über das rissige Holz seiner Lieblingsbank. Mit einem Seufzer ließ er sich darauf nieder und hielt das Gesicht in die Frühlingssonne. Mit seiner Katharina hatte er das letzte Mal vor zwei Jahren hier gesessen. Als sie noch jung und voller Energie waren, war es ein kurzer Weg bis hierher, doch über die Jahrzehnte schien es immer länger zu dauern. Nun kam er fast jeden Tag allein an diesen Ort. Nur ungemütliches Wetter hielt ihn davon ab, der Bank und den damit verbundenen Erinnerungen einen Besuch abzustatten.
Katharina hatte ihn zurückgelassen. Sie lebte in einem Heim in der Stadt und zog sich immer weiter in sich selbst zurück. Er besuchte sie ein Mal in der Woche, obwohl es ihn schmerzte, sie in diesem Zustand zu sehen. Ihr Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt, zu keiner Gefühlsregung mehr fähig wie eine ihrer Puppen, die sie gesammelt hatte. Diese waren das Einzige, was er nach ihrem Auszug aus dem Haus entfernt hatte. Alles andere hatte er aufgehoben, sogar ihren Lippenstift und die Creme mit dem Rosenduft. Aber die Puppen mit ihrem eingefrorenen Gesichtsausdruck verfolgten ihn bis in den Schlaf.
Karl schaute ins Dorf hinunter, in dem er und Katharina ihr ganzes Leben verbracht hatten. Es war ein ausgefülltes Leben gewesen. Jetzt war er gezwungen, es nach so langer Zeit allein zu bestreiten.
Schritte knirschten auf den Kieseln des Weges. Eine junge Frau näherte sich schnaufend und mit rotem Gesicht der Bank. Karl lächelte. Wandern war die neueste Lieblingsbeschäftigung vieler Menschen, aber um die Ausdauer war es bei den meisten schlecht bestellt.
Die Frau wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und versuchte, ihre Atemlosigkeit in den Griff zu bekommen.
»Darf ich mich einen Moment setzen?«, fragte sie.
Karl nickte und rückte ein Stück zur Seite. Katharina hatte sicher nichts dagegen, wenn er die Bank mit einer Fremden teilte.
»Ich bin Josephine«, stellte sie sich ihm vor.
»Freut mich. Mein Name ist Karl.«
Josephine packte ihre Brotzeit aus und hielt ihm einen Apfelschnitz hin.
»Ich habe mal wieder zu viel eingepackt. Eigentlich wollte mein Freund mitkommen, aber im letzten Moment hat er es sich anders überlegt und ist im Bett geblieben.«
Karl runzelte die Stirn, doch bevor er zu Wort kam, plauderte Josephine schon munter weiter und erzählte ihm sämtliche Details ihrer Beziehung. Zwischendurch biss sie in ihr Käsebrot, was sie allerdings nicht vom Reden abhielt.
»Sind Sie eigentlich allein?«, fragte sie ihn schließlich.
»Ja, leider. Meine Frau lebt seit einiger Zeit in einem Pflegeheim und vergisst unser Leben Tag für Tag ein wenig mehr. Ich wünschte, ich könnte noch einmal mit ihr hier oben auf der Bank sitzen.«
Josephine schwieg. Karl schaute sie an und spürte, dass er sie mit seinen Worten ins Herz getroffen hatte. Nach einer Weile räusperte sie sich.
»Ich würde Ihnen gerne helfen, Karl. Wenn Sie nichts dagegen haben, fahre ich Sie gern zu Ihrer Frau und wir bringen sie gemeinsam her. Vielleicht kann sie sich noch daran erinnern.«
Am nächsten Tag saß Karl wieder auf seiner Lieblingsbank. Die Sonne schien und wärmte das Holz. Karl schloss seine Hand um die seiner Frau. Katharina erwiderte den Druck und seufzte leise.
»Ich liebe dich, Karl«, flüsterte sie. »Danke.«
Als er sie eine Woche später im Pflegeheim besuchte, schien ihr Blick durch ihn hindurchzugehen. Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Kenne ich Sie, junger Mann?«