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Die Geschichte
vom Fuchs

»Musst du jeden Tag zu spät kommen?« Genervt wirft Simon den Messbecher in die Rührschüssel und reibt sich die Hände an seinem Kittel sauber. 

»Tut mir leid«, murmelt Ida. Die vorwurfsvollen Blicke von Monika und Leonhard ignoriert sie. Ihre Kollegen haben bestimmt alle zwei Minuten betont, dass sie noch fehlt. Vor allem Leonhard, der seit Tagen mit seiner neuen Uhr angibt.

»So kann das wirklich nicht weitergehen. Wenn du nicht pünktlich bist, werde ich jemand anderen suchen«, fährt Simon ernst fort und weist Ida mit der Hand ihren heutigen Arbeitsplatz zu: die große Wanne mit dem Spülwasser. Seit sie in der Konditorei arbeitet, wird sie meistens dafür eingeteilt, das Durcheinander der anderen zu beseitigen. Zu Beginn war sie überglücklich, dass Simon sie genommen hat. Kurz darauf wurde klar, dass sie ganz unten anfangen muss. Monika ist eine Meisterin im Erschaffen aufwändiger Riesentorten. Leonhard vertieft sich gern in Verzierungsarbeiten und das Backen winziger Cupcakes. Und Simon, der Konditormeister, zaubert tagtäglich dreißig Stück seines Spezialgugelhupfs.

»Auf die richtige Mischung kommt es an«, betont er immer wieder mit einem geheimnisvollen Grinsen im Gesicht. 

»Darf ich heute mal einen Kuchen backen?«, fragt Ida hoffnungsvoll nach einem lustlosen Blick auf das Spülbecken, in dem schon zahlreiche Gefäße schwimmen. 

»Morgen vielleicht«, antwortet Simon. »Aber nur, wenn du pünktlich bist.«

»Ich musste eben noch aufs Klo«, erklärt sie. Murrend fängt sie mit dem Abwasch an. Vielleicht hätte sie doch Krankenschwester bleiben sollen. Aber die Ärztin ist eine fiese Ziege, die jeden herumkommandiert.

Ida ist müde. Hoffentlich zieht sich der heutige Tag nicht so lange wie gestern. 

»Oh nein!«, schreit Monika und guckt traurig auf den Berg vor ihr, der eine Torte hätte werden sollen. Jetzt sieht man nur einen Matschhaufen. Ida bemerkt, dass Monika gleich anfangen wird zu weinen. Das wäre nicht das erste Mal. Sie ist eine richtige Heulsuse.

»Macht doch nichts«, beruhigt Simon sie und hilft ihr, die Pampe zurück in die Form zu löffeln. Zu ihr ist er immer nett, ärgert Ida sich.

»Der Teig war zu nass«, stellt sie fest und wittert ihre Chance. »Vielleicht sollte ich es mal versuchen.«

»Du bist heute die Abwäscherin«, erinnert Leonhard sie. Als gerade niemand hinschaut, wirft Ida ihm eine Handvoll von Monikas Tortenmasse ins Gesicht. Bevor er Alarm schlagen kann, erklingt eine Stimme neben ihnen.

»Kommt ihr? Es gibt Mittagessen!« 

»Noch nicht«, knurrt Simon und stürzt den nächsten Gugelhupf. »Wir sind noch nicht fertig.«

»Ach, komm schon, Simon«, sagt Sandra lächelnd und klopft ihm den Schmutz von der Hose. »Heute gibt es Spaghetti. Das ist doch dein Lieblingsessen.« 

»Meinetwegen«, grummelt er und wirft die Kuchenform auf den Boden. »Aber dafür will ich nach dem Essen nochmal die Geschichte vom Fuchs hören. In allen Einzelheiten«, fordert er mit ernstem Blick.

»Du verhandelst schon wieder«, ermahnt Sandra ihn und hebt die Augenbrauen. 

»Ich will auch wissen, wie das mit dem Fuchs war«, mischt Ida sich ein.

»In Ordnung. Nach dem Mittagsessen erzähle ich euch die ganze Geschichte vom Fuchs. Der kam nämlich jede Nacht, wenn der Mond aufgegangen war und genau zwischen der dritten und vierten Reihe durchschimmerte, hierher.« Sandra zeigt auf den Stacheldrahtzaun, der das große Feld hinter dem Kindergarten vom angrenzenden Wald trennt. Statt des Mondes sieht man jetzt die Sonne durch die Drähte scheinen. Schnell greift Ida nach Sandras Hand und lauscht aufmerksam. »Er schlüpfte durch ein kleines Loch, das er in die Erde gebuddelt hatte, und überwand mit einem geübten Sprung unser Holzzäunchen. Und während die Kinder zuhause friedlich in ihren Bettchen schlummerten, spielte der Fuchs mit seinem Freund, dem Hasen, die ganze Nacht in diesem Sandkasten und sauste mit ihm um die Wette die rote und die gelbe Rutsche hinab …«

Gefangen und
unsichtbar

Mit seinem neuesten Fundstück, gut erhaltenen Noise-Reduction-Kopfhörern, auf den Ohren, um die Kakofonie der Außenwelt von sich abzuschotten und sich vor Kälte und Wind zu schützen, trottete er vor sich hin. Leise summte er eine erfundene Melodie, denn aus den Kopfhörern kam kein einziger Ton. Er besaß kein Gerät, das Musik abspielen konnte.

Ein kurzes Stück des gepflegten Fußwegs führte ihn entlang eines altertümlichen Mauerwerks, das die dahinterliegende Parkanlage vor neugierigen Blicken und Vandalismus schützen sollte. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern schlurfte er an den wenigen Metern Mauer vorbei.

Für Außenstehende – soweit überhaupt jemand Notiz von ihm nahm – musste es wirken, als schleppte er sich auch danach an einer unsichtbaren Steinwand entlang. Wie ein Strafgefangener. Denn genau so fühlte er sich. Fehlten einzig die Fußfesseln oder die Kette mit der Eisenkugel.

Auch wenn die Realität möglicherweise eine andere war, oder hätte sein können – hatte es für ihn je eine andere gegeben? –, sein gesamtes erbärmliches Leben fand innerhalb eines gerade einmal vier Fußballfelder großen Parcours statt. Seinem Areal, das er in den letzten Wochen – oder waren es Monate? Gar Jahre? – mühsam erobert hatte. Andere, denen es ähnlich erging wie ihm, hatten sich von seinem hart erkämpften Claim gefälligst fernzuhalten. Sollten die sich doch ihren eigenen Arbeitsbereich suchen.

Einige dieser quasi Gleichgesinnten entflohen der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, indem sie in fragwürdige Geschichten und Erzählungen abtauchten oder sich mit Hilfe von Alkohol in fremde Sphären teleportierten. Wieder andere erschufen in ihrer schier unermesslichen Fantasie völlig neue, grenzenlose Welten.

Zu all dem war er nicht fähig. Solch sonderbare Hirngespinste konnte sich sein Kopf nicht ausdenken. Noch nie? Oder nicht mehr? Was war mit ihm geschehen?

Er wusste es nicht. Er hatte nur das unbestimmte Gefühl, dass er in seinem Kopf seit Ewigkeiten von unüberwindbaren und undurchdringlichen Barrieren umgeben war. Und er hatte weder Seile oder Leitern noch die passenden Schlüssel, um aus diesem seltsamen Gefängnis auszubrechen. Er war gefangen von meterhohen Steinwällen aus Buchstaben, armdicken Betonmauern aus Wörtern, sperrigen Metallgittern aus Satzgebilden und gefährlichen Einzäunungen, beschrieben und bedruckt mit unverständlichen Bleiwüsten. Bedrucktes war für ihn jedoch nur eine Aneinanderreihung von bizarren Zeichen, die keinerlei Sinn ergaben, und diente ihm höchstens als Decke in kalten Nächten.

War das schon immer so? Als er jünger gewesen war, musste er es doch irgendwie geschafft haben, sein Leben durch diesen Informationsozean voller unbekannter und unlesbarer Botschaften zu schiffen? Doch jung war er schon lange nicht mehr. Zumindest behauptete dies sein Spiegelbild, das ihn von der ein oder anderen Fensterfront grinsend aus der Fassung bringen wollte.

Wie lange war er bereits eingekerkert in diesem für seine Umwelt unsichtbaren Verlies? Selbst seine Gedanken wollten einfach nicht mehr aus seinem umzäunten Verstand herauskommen. Oder konnten es nicht mehr. Etwaige Fluchtversuche wurden augenblicklich durch heftigste Kopfschmerzen, Übelkeit und Benommenheit bestraft. Manchmal wurde er sogar bewusstlos. Nachdem er sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.

Doch Hilfe gab es für ihn keine. Vielmehr drehte man sich weg, wollte nichts mit ihm zu tun haben. Denn er roch entsetzlich, seine Kleidung war zerrissen, die Hosen fleckig, die Hände schmutzig und seine Schuhe hatten Löcher.  Als bettelnder Obdachloser war er für seine Umwelt unsichtbar geworden. Das machte ihn müde. Unfassbar müde.

Ein diffuser Lichtstreif kreuzte seinen Weg und er stoppte. Langsam, um seinen steifen Nacken nicht noch mehr zu reizen, wandte er seinen Blick in Richtung Licht. Von dichtem Nebel abgeschirmt versuchte die Sonne ihre Strahlen durchzuschicken, doch es wollte ihr nicht gelingen. Eingerahmt von Stacheldraht schien es ihm, als ob auch der lebensspendende Stern in einer Art Gefängnis sein Dasein fristete.

Wie traurig! Der Sonne geht es genauso wie mir, dachte er.

Dann platzte das Aneurysma in seinem Kopf.

Wochen später wurde seine Frau, die ihn vor über zwei Jahren als vermisst gemeldet hatte, informiert. Thorsten K. war gerade einmal 38 Jahre alt geworden.