Diese Geschichte schrieb @_a_d_farbenreich_ Horror

Mitternachtstanz

Gespannt wartete Marco am Rande des eingefriedeten Grundstücks. Verlassen, kalt und tot strahlten die verfallenen Gemäuer in nur wenigen Metern Entfernung vor ihm. Einst war es ein Bauernhof gewesen, vor vielen, vielen Jahren. Ganz sonderbare Geschichten rankten sich um diesen gemiedenen Ort. Grausame und furchterregende Geschichten waren es, doch die Neugier des jungen Mannes und der Antrieb, die Mutprobe zu bestehen, waren größer als die Angst.

23:59 Uhr zeigte Marcos digitale Armbanduhr. Nicht ein einziges Mal hatte er zurückgeblickt auf den Hügel, wo sein seit Kindertagen bester Freund Tobias im Auto wartete. Jener Freund, der ihn zu dieser wagemutigen Aktion angestiftet hatte.

Die Uhr sprang um, und die ersten weißen Schleier erhoben sich aus dem Boden des Innenhofes. Erst nur Gebilde, die sich nach oben streckenden Händen glichen, dann, nach einigen Metern Bewegung im Kreis, erschienen Köpfe und schließlich ganze Körper aus dem Erdreich. Durchscheinende Wesen schwebten über den Platz und doch war ihre Blässe strahlend genug, die Dunkelheit zu durchdringen. Die Wesen leuchteten.

Ein helles, klirrendes Klingeln, als würden sie Tausende Glöckchen über einen Scherbenhaufen mit sich ziehen, wurde vom Wind bis zu ihm herübergetragen. Es überbrachte einen Schauer, der Marco über den Rücken hinauf bis ins Innerste seines Knochenmarks lief und dort Verwüstung anrichtete.

Ein weißes Gesicht erschien in einem der Fenster. Die toten, ausdruckslosen Augen starrten ins Leere, durch die tanzenden Geister am Platz hindurch.

Aus dem Schornstein drang schwarzer Rauch. Binnen weniger Sekunden legte er sich einer schweren Decke gleich, über das verlassene Gehöft. Kein Mondschein drang mehr durch, ja nicht einmal die Sonne wäre stark genug gewesen, um diese Wand aus schwarzen Schwaden zu brechen.

Spätestens jetzt war sich Marco sicher, dass er zu weit gegangen war. Er hätte die Warnungen seiner Großmutter besser ernst nehmen sollen.

Immer näher kroch der dunkle Rauch heran. Als würde er leben und bewusst handeln, kitzelte er an Marcos Seele. Er griff tief in sein Bewusstsein, legte seine kalten Finger herum und zog daran. Marco fühlte, wie etwas in ihm zerriss, quälend langsam, Millimeter für Millimeter. Kräftig zog das schwarze Wesen an seiner Seele, versuchte, sie ihm auszureißen. Marco, mittlerweile vollständig paralysiert und unfähig, auch nur eine Bewegung zu tun, nahm seine gesamte Kraft zusammen. Kein Finger rührte sich. Er versuchte es weiter, versuchte wenigstens zu schreien, doch auch seine Lunge war nur noch auf Notbetrieb. Atmungsreflexe, kontrolliert von seinem Gehirn, kamen zu selten, um ihn ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Je fester das schwarze Wesen zupackte, desto seltener atmete er. Er wollte röcheln, Luft in seinen Brustkorb reißen und das erlösende Gefühl verspüren, durchatmen zu können.

Unbeirrt von seinem Leid bewegten sich unzählige weiße, menschenförmige Schleier über den Platz. Nebel legte sich auf den Boden und verschmolz mit den tanzenden Gestalten.

Nun stolperte auch sein Herzschlag. Blut fehlte im Gehirn und sammelte sich in den Beinen. Sie wurden schwer und zwangen ihn, auf die Knie zu sacken. Seine Ohren rauschten, ergänzten das penetrant gläserne Klingeln. Ein weiteres Mal verdichtete sich der Rauch und wurde so stark, dass Marcos Anstrengungen nur noch lächerlich erschienen. Mit einer kraftvollen Bewegung der dunklen Gestalt brach Marcos Brust entzwei. Riss waagerecht einfach auf. Er spürte, wie er in der Hand der Gestalt aus der leblosen Hülle fortgezogen wurde, hin zu den weißen Tänzern. Nun hörte er auch ihr Klagen, ihr leidvolles Winseln und betteln um Erlösung. Marco fühlte instinktiv, dass es nutzlos war, und doch stimmte er in den Kanon der Verzweiflung ein. In den Tanz der Toten. Als sich der dunkle Rauch zurück in den Kamin verzog und langsam wieder Mondlicht sie zu blenden begann, ordnete er sich wie selbstverständlich in die Schlange ein. Einer nach dem anderen verschwand wieder im Erdreich, bis zum nächsten Mitternachtstanz. Bis zum nächsten wagemutigen Neugierigen. Bis zum nächsten Totentänzer.

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