Die blühende Lichtung
Keiner hat mir vorzuschreiben, wohin ich gehe und wohin nicht. Auch eine vergilbte, angerostete Blechtafel mit der fetten Aufschrift „Betreten verboten“ hat nicht die Ermächtigung dazu, mich in meiner Bewegungsfreiheit irgendwie einzuschränken – schon gar nicht mitten im Wald, genau dort, wo ich seit Jahren diese einzigartige, helle Lichtung mit dem bunten Blütenmeer bewundere.
Bis dato habe ich mich nicht getraut, das Tor zu öffnen, hindurchzugehen und mich durch die Blütenpracht zu bewegen. Nur wenige Meter vor mir erstreckt sie sich über die gesamte Lichtung. Zehn, zwanzig, vielleicht sogar dreißig Meter im Durchmesser. Okay, eher zehn als dreißig; mein räumliches Vorstellungsvermögen ist noch nie das Beste gewesen.
Meine Finger lösen die Kette, mit der das Holztor an den Zaun gebunden ist, und ich wundere mich, dass sich kein Schloss darauf befindet. Aber wieso sollte es auch? Eine simple Wiese liegt dahinter.
Ich öffne das Tor, husche schnell hindurch und befestige die Kette wieder. Sorgfältig und genau so, wie ich sie vorgefunden habe. Ist da doch etwas Angst in mir, man würde es bemerken? Meine Vorstellung handelt von jemandem, der täglich das Tor kontrolliert und ob die Kette noch genau so liegt wie am Tag zu vor. Von jemandem, der bemerkt, dass vielleicht ein Kettenglied anders gedreht ist. Von jemandem, der bemerkt, dass ich durch das Tor gegangen bin.
Von jemandem, der nach mir sucht.
Hitze steigt durch meinen Körper und mündet in meinem Kopf, der sich plötzlich so voll und heiß anfühlt. Ich habe es nun eilig, voranzukommen; weg von dem Tor, weg vom Weg. Das Gebüsch am Wegesrand scheint mir sicherer zu sein, um die wenigen Meter bis zur Lichtung zurückzulegen. Ich bin froh, mich damals doch für die Zeckenimpfung entschieden zu haben und ignoriere jetzt, dass mich diese ekelhaften kleinen Krabbeldinger höchstwahrscheinlich schon verfolgen. Wenn es nur das wäre!
Ein Ast knackt, doch ich war es nicht, der den Schritt darauf getan hat.
Mein Brustkorb verspannt sich, meine Lunge möchte nicht mehr atmen. Ich zittere.
Die Lichtung vor mir kommt immer näher. Zwei Schritte noch, dann stehe ich inmitten des grellen Blütenmeers. Bis zu meinen Hüften reichen die mattgrünen, langgestielten Pflanzen, an deren Enden zarte Blütenblätter in Rosa, Rot und Hellorange jeweils ein kleines Köpfchen einschließen. Bei manchen ist es noch ringsherum dicht von Blättern umgeben, bei anderen hat sich die Blüte bereits etwas gelichtet. Und schließlich sind da einige, die bereits nackt sind.
Ich bücke mich nach unten und betrachte die wunderschönen Pflanzen; dabei nehme ich diesen verspielten, eigentümlichen Geruch wahr. Wie eine mächtige Symphonie, die nicht laut gespielt werden möchte, kitzelt der Duft meine Nase. Ich atme tief ein und wieder aus und kann mich etwas entspannen.
Die Ängste von vorhin sind völlig unbegründet, versichere ich mir.
Es ist doch nur ein Blumenfeld.
Meine Augen fokussieren eines der Köpfchen direkt vor mir.
Sehe ich richtig?
Längs, von unten nach oben, scheint das hellgrüne, mit weißlichem Pelz überzogene Gebilde eingeritzt; und auf der Wunde sitzen weiße Tropfen, die bereits eingetrocknet sind. Ich nehme es zwischen meine Finger, drehe es, und sehe, dass ringsherum Schnitte sind. Vorsichtig kratze ich etwas von der eingetrockneten Milch ab und rieche daran. Intensiver Mohngeruch schlägt mir beinahe berauschend entgegen und jählings wird mir bewusst, wo ich mich hier befinde.
Eine Mohnplantage. Opium wird auf diese Art hergestellt, dabei handelt es sich um eingetrocknete Krümel aus der Milch der Blütenkapseln. Opium – die Grundlage für Heroin.
Eine Heroinplantage, hier mitten im Wald, in einem Erholungsgebiet, das viele Familien für Ausflüge nutzten.
Ich muss so schnell wie möglich von hier fort.
Meine Beine rennen, bevor ich darüber nachdenken kann, wohin, quer durch das Feld voller Mohnblumen. Meine Angst trägt mich zielsicher in Richtung des dichten Waldes und pulsiert durch meinen Körper. Die umgetretenen Pflanzen hinter mir sind mir dabei egal. Ich will nur noch weg, und nun kommt mir doch vor, dass die Fläche eher dreißig als zehn Meter groß ist, denn die wenigen Sekunden fühlen sich wie lange Stunden an.
Endlich spüre ich, wie ich wieder auf Waldboden auftrete, doch weiter komme ich nicht.
Auf mich wartet bereits jemand und starrt mir wütend entgegen.