Diese Geschichte schrieb @Leonjoestick Thriller, Krimi

Geburt eines Monsters

Nervös richte ich meinen Blick in das helle Licht einer Straßenlaterne an der stillgelegten Kaserne im Süden von Hamburg. Es blendet mich. Zeit ist der Feind. Instinktiv schließe ich für einen Moment die Augen. Das Brutzeln und Knistern der Leuchtstoffröhren wirkt dabei, als würde mich dieser Ort hier auslachen. Hämisch und schadenfroh, denn ich weiß: Egal wie schnell das Licht auch sein mag, die Dunkelheit ist immer schon vor ihm da.

Die Melodie der vergessenen Welt um mich herum bahnt sich fortwährend einen Weg in meine Ohren. Unwillkürlich versuche ich sie zu überhören. Vergeblich. Niemals war Stille so laut. Ich ignoriere das „Betreten verboten“ Schild was unliebsame Besucher vermeintlich effektiv fern halten sollte. Obwohl ich die befestigen Straßen verlasse und immer tiefer in sein Revier eindringe, bleibt die stille Musik präsenter als mir lieb ist.

Zu allem Überfluss gesellen sich auch noch der Geruch von unerträglicher Fäulnis, Verwesung und von hochkonzentriertem Ammoniak dazu und reizen meine Schleimhäute bis an den Rand des Erträglichen. Der beißende Gestank sorgt für ein unangenehmes Brennen in meinen Augen. Ich muß wachsam bleiben, haste entschlossen durch die Ruine der ehemaligen Stube 7, in Richtung des angrenzenden Waldstücks. Denn hier hin soll er SIE verschleppt haben!

Vorsichtig folge ich dem schmalen Lichtkegel meiner Taschenlampe. Tiefer und tiefer in sein Versteck. Immer darauf bedacht, den toten übel riechenden Ratten unter meinen Füßen nicht allzu viel Beachtung zu schenken. Schritt für Schritt. Meter um Meter. Aufgeben ist keine Option. Der Morast und Dreck an meinen Schuhen klebt an mir, wie die Last der Schuld ihn nicht aufgehalten zu haben. Ich darf nicht zögern. Darf nicht wieder scheitern.

Statistiken besagen, dass die ersten 48 Stunden entscheidend sind bei Kindesentführungen. 47 davon sind verstrichen. Der Countdown läuft unaufhaltsam. Ich darf nicht versagen. Nicht ein weiteres Jahr verstreichen lassen. Es gibt nur diese eine Chance, bevor der Halloween-Killer ein Jahr später erneut zuschlägt. Je näher ich ihm komme, umso mehr wächst in mir die Hoffnung, dass der letztjährige 31.10. der war, an dem ich das letzte Mal zu spät kam.

Systematisch kämpfe ich mich durch das Dickicht in der Nähe seines Unterschlupfs. Äste und Zweige peitschen mir dabei ins Gesicht und hinterlassen ihre brennenden Spuren. Mit einer Hand halte ich meine Taschenlampe, mit der anderen entferne ich das Gestrüpp, das mich beim Vorankommen hindert. Ich muss resilent bleiben. Die Befehle der Einsatzzentrale waren klar. Nichts unternehmen, bis Verstärkung da ist. Aber was, wenn es dann zu spät ist? Bevor ich diesen Gedanken zu einem Ende führen kann, erblicke ich ihn. Das Monster in Menschengestalt: Den Halloween-Killer. Ich ziehe meine Dienstwaffe aus dem Holster.

„Na ihr kleinen Zuckermäuse. Süß seht ihr aus in euren Kostümen.“

Die Szenerie, die ich beobachte, wirkt bizarr. Die entführten Zwillinge sitzen an einem Puppentisch, der mit reichlich Tassen und Tellern geziert ist. Eine Kuchentafel der diabolischen Art. Ihre Gesichter blicken zu mir. Sie sind geschminkt und verkleidet wie Pierrot Puppen aus den Achtzigerjahren und wirken auf mich leicht sediert. Die Nadeln, die in ihren Unterarmen stecken, bestätigen meinen Verdacht. Noch haben sie mich glücklicherweise nicht entdeckt. Ihre trüben Augen schauen einzig und allein zu der Gestalt, die in einem Zirkusdirektor-Outfit gekleidet mit Frack und Zylinder gemeinsam mit ihnen am Tisch sitzt. Der Killer schaut nur in ihre Richtung und ist gerade dabei, ihnen imaginären Tee oder Kaffee einzuschenken. Er bemerkt mich nicht.

Mein Herz pumpt. Meine Adern pochen. Ich muss ihn jetzt zur Strecke bringen. All die Opfer der vergangenen Jahre erscheinen vor meinem geistigen Auge. Das Leid der Eltern überkommt mich, als wäre es mein eigenes. Nie wieder!

Ohne über die Konsequenzen meines Handels nachzudenken schieße ich wie ein Amokläufer mein ganzes Magazin leer. Analog dazu entlädt sich meine über Jahre angestaute Wut, meine ganze Aggression. Jede einzelne Patrone der 15-schüssigen P-99 steht sinnbildlich für eines der vierzehn Zwillingskinder, die durch dieses Scheusal auf bestialische Art und Weise ihr viel zu junges Leben verloren. Jeder Schuss ein Treffer.

Die letzte Patrone dient meiner Genugtuung, als Entschuldigung an die Eltern für mein andauerndes Fehlversagen der vergangenen Jahre. Kopfschuss! Das Halloween-Monster ist tot!

Aber eine Frage lebt: Wurde gerade ein Neues geboren?