Eine Nacht im Wald
Lautlos senkt sich die Schwärze der mondlosen Nacht über die Wipfel der Bäume. Stille kehrt ein, nur durchbrochen vom leisen Rascheln der Blätter und dem gelegentlichen Knacken der Zweige. Verstummt sind die Vogelrufe, abgelöst vom flatternden Flügelschlag vereinzelter Fledermäuse.
Bedächtig wandelt er zwischen den Bäumen umher, inhaliert den Duft der herbstlichen Fäulnis, streicht wehmütig über die raue Borke der Baumstämme, kostet das Gefühl aus, wie sich der dichte Teppich aus herabgefallenen Herbstblättern feucht unter seine bloßen Fußsohlen schmiegt.
Seine gemächlichen Schritte tragen ihn ins Herz des Waldes. Dort liegt ein Moorsee, dessen Oberfläche in dieser windstillen Nacht so ruhig ist, dass sich die winzigen Lichter der Sterne im dunklen Wasser spiegeln.
Wie ein schwindender Schatten kniet er am morastigen Ufersaum nieder und beugt sich über den Wasserspiegel. Er taucht die Hände ins kühle Wasser, schöpft und trinkt. Dabei schließt er die Augen und labt sich am erdigen Aroma der Flüssigkeit.
Obwohl sein Durst rasch gestillt ist, verweilt er einige Minuten und rastet in der kauernden Position, bevor er sich mühsam erhebt. Wo ist seine einstige Kraft geblieben? Kaum tragen ihn seine Beine die wenigen Meter zu einem umgestürzten Baumstamm, auf dem er sich mit einem leisen Ächzen niederlässt.
Sein Blick fällt auf die nächtlichen Büsche und Bäume am gegenüberliegenden Ufer. In seiner Erinnerung stehen sie im satten Grün eines frühen Sommers und recken ihr frisches Blätterkleid den lebensspendenden Sonnenstrahlen entgegen. Bläulich schillernde Libellen surren über den See, auf dem sich die fleischigen Blätter der knospenden Seerosen verflechten und dunkelgrüne Inseln bilden. Eine Ricke und ihr weißgepunktetes Kitz treten aus dem Dickicht hervor. Der scheue Blick des Muttertiers findet den seinen. Sie spitzt die Ohren, blinzelt, dann neigt sie den Kopf und trinkt in aller Seelenruhe. Auch das Jungtier beäugt ihn voller Neugier, bevor es das Maul ins Wasser taucht. Neben den trinkenden Rehen landet ein Eisvogel auf einem Zweig und lässt sein charakteristisches hohes Pfeifen ertönen.
Das Bild schwindet, viel zu lange liegen diese Ereignisse in der Vergangenheit.
Im Hier und Jetzt gibt es keine Libellen, keine Rehe und keine Eisvögel, sondern nur ihn und die düsteren Schemen der Bäume in der Finsternis. Er sackt in sich zusammen und vergräbt sein blasses Gesicht in den Händen. Warum hat alles ein Ende, warum ist alles vergänglich?
Er hat keine Antwort darauf, weiß nur, dass er die Zeit zurückdrehen und die Zukunft verändern würde, wenn er nur könnte. Doch diese Macht besitzt er nicht.
Die Traurigkeit lastet wie ein bleierner Mantel auf ihm und bringt seinen Atem zum Stocken. Tränen der Hilflosigkeit rinnen über seine hageren Wangen und benetzen seine Handflächen. Er lässt es geschehen, wischt sie nicht ab.
Wolkenfetzen ziehen am schwarzen Firmament auf und verbergen das kalte Licht der Sterne. Als ein leiser Windhauch um seine Glieder streicht, hebt er das tränenfeuchte Antlitz. Die Oberfläche des Sees kräuselt sich nun, verschwunden ist die Reflexion der unendlich weit entfernten Himmelskörper.
Tief atmet er ein und aus, dann steht er stöhnend auf und setzt seinen Weg zum Waldrand fort, vorbei an Moos und Heidekraut. Dort lichten sich die Bäume und geben einer Wiese Raum. Im Lauf der Nacht haben sich dicke Tautropfen auf die Blumen und Gräser gesetzt. Die Blütenkelche sind geschlossen, bereit sich zu öffnen, ihre rötliche Farbenpracht zu entfalten und die übriggebliebenen Insekten mit ihrem feinen Duft anzulocken, sobald der Tag anbricht.
Sobald der Tag anbricht … So gern er bleiben würde – für ihn ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Heute im Frühlicht werden sie eintreffen und diesen letzten Rest seines Königreichs vereinnahmen. Erbarmungslos werden sich riesige Maschinen ihren Weg bahnen, mit ihren metallenen Klingen die Stämme der jungen und alten Bäume zerreißen, zarte und zähe Pflanzen gleichermaßen auf ihrem Weg niederwalzen. Bald wird das Moorgebiet ausgetrocknet sein und Beton den Platz der Natur einnehmen. Es wird kein Lebensraum mehr für Bäume, Seen oder Wiesen übrig sein, genauso wenig wie für ihn selbst.
Der Geist des Waldes seufzt ein letztes Mal, flüstert all seinen todgeweihten Geschöpfen ein leises Ade zu und verlässt sein Zuhause für immer.