Grelles Licht
Ist es eine Eiche gewesen? Oder eine Buche? Oder gar eine Lärche? Irritiert blickt er nach oben in das grelle Licht und versucht sich an die Form der Blätter zu erinnern. Eine Lärche hat Nadeln. Nein, die ist auszuschließen. Er überlegt. Jetzt fällt es ihm ein – klein und rundlich – es war eine Buche! Er sieht ihn direkt vor sich, seinen Baum, in Kindheitstagen entdeckt. Man erkennt ihn an dem einzigartigen Stamm, der eine menschliche Silhouette zu tragen scheint. Er hat ihn wiedergefunden! Und nun steht er hier mitten im Wald, die Hand ausgestreckt, berührt mit feuchten Augen den Stamm und fühlt das Moos. Augenblicklich befindet er sich wieder in seiner Kindheit und verlässt damit die Dunkelheit … und dieses grelle Licht – wie paradox, denkt er kurz bei sich. Dann gibt er sich seinen Erinnerungen hin.
Er, kaum größer als das Gartentor, das er verließ, an dem Tag, als sein Vater ihn zum Spielen schickte. Ein aufgeweckter Bursche, der stundenlang voller Abenteuerlust durch den Wald streifte, wo er den Baum fand. Hier hat er ein Tipi aus Stöcken gebaut, genau dort neben dem Baum, und Tiere beobachtet.
Er verweilt lange, hier ist er ganz unbeschwert. Auch wenn es sich anders anfühlt als früher. Muss wohl am Alter liegen. Hin und wieder kommt es ihm nicht so still vor, Waldesruh und Waldesrauschen werden hier und da von Stimmen durchzogen. Er sieht sich nach Menschen um, kann aber niemanden entdecken. Vereinzelt ist da dieses grelle Licht zwischen den Baumkronen, welches ihm den Wald surreal erscheinen lässt. Verwundert fragt er sich, ob er wirklich hier ist. Um sich zu vergewissern, tastet er wieder nach dem Stamm des Baumes. Seine Finger erspüren das Moos nicht mehr. In dem Moment verschwindet sein Baum und etwas, das sich wie ein Sog anfühlt, befördert ihn in dieses grelle Licht. Ist alles nur ein Traum gewesen? Da, er sieht die Gesichter seiner Frau und Tochter! Ihre Blicke treffen den seinen und der Wald ist vergessen. Seine Tochter wünscht ihm alles Gute zum Geburtstag. Er freut sich. Er fragt sich, wann er sie zuletzt gesehen hat. Egal. Er will etwas sagen. Was dann geschieht, kann er sich nicht erklären. Unvermittelt findet er sich in dem altbekannten Wäldchen wieder und steht vor dem Baum. Sein Baum, wie schön – worüber hatte er sich eben noch gewundert? Unwichtig. Wie die Zeit, nichts ist mehr von Belang. Er ist froh, dass er nun in dem Alter ist, in dem er selbst entscheiden kann, wie lange er hierbleibt. Kein Zurückkehren aus dem Abenteuer vor Einbruch der Dunkelheit. Er muss nicht zum Abendessen zu Hause sein. Oder musste er das doch? Wahrscheinlich sollte er sich auf den Weg machen. Jemand wartet. Er berührt den Baum zum Abschied. Er blinzelt, denn schlagartig findet er sich in diesem grellen Licht wieder. Seine Frau hat tatsächlich schon auf ihn gewartet. Sie lächelt ihn an. Sind da ein paar Lachfalten hinzugekommen?
»Hallo, Papa«, erschallt es neben ihr. Verwundert blickt er auf die ihm unbekannte junge Frau neben seiner Liebsten. Sie hält einen kleinen Jungen auf dem Arm. Verwirrt sieht er sich um. Grelles Licht, weiße Wände. Alles viel zu steril und ungemütlich. Ist er nicht eben noch im Wald gewesen? Ein Wummern macht sich in seiner Brust bemerkbar, schnell breitet es sich aus und sein Herz klopft ihm bis zum Hals. Wer sind die beiden Frauen, die ihn zu beruhigen versuchen? Er will nicht, dass sie ihn berühren. Er schreit. Tränen nun auch in den Augen der Frau vor ihm. Sein Puls rast, als ihn schließlich die Dunkelheit empfängt.
Als er wieder zu sich kommt, ist da dieser Baum, den er schon einmal gesehen hat. Er weiß nicht genau warum, aber sein Anblick beruhigt ihn. Er beschließt, hierzubleiben. An diesem Ort fühlt er sich wohl. Er will Stöcke für eine Behausung neben dem Baum sammeln – was für eine tolle Idee! Ab und zu blitzt zwischen diesen kleinen runden Blättern ein grelles Licht hindurch, aber er übersieht es. Manchmal taucht ein freundliches Gesicht vor ihm auf, er kennt die ältere Frau nicht, freut sich aber, dass noch jemand Gefallen an diesem schönen Wäldchen findet. Hier spielt er gern.