Die Bank unterm Apfelbaum
Es war im April, als sich Gitte das erste Mal mit einem leisen Seufzen neben mir auf der sonnengewärmten Bank niederließ.
Ich hatte mein Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen und genoss das wärmende Licht auf meiner Haut, als sie zu sprechen begann.
„Ein wirklich schönes Plätzchen ist das hier“, hörte ich ihre leise Stimme und ich hätte nicht sagen können, ob sie mit sich selbst oder mit mir sprach.
„Mmmh“, machte ich nur zustimmend und ärgerte mich über die Unterbrechung.
„Er mag die Sonne auch“, sagte die ältere Dame nun etwas lauter, und als ich meine Augen widerwillig öffnete, sah ich, dass sie mich anguckte. Mit dem Daumen wies sie auf den Apfelbaum, dessen Stamm nur eine Armlänge hinter unserer Bank in die Höhe ragte.
„Ja, er hat einen wirklich guten Platz hier erwischt“, pflichtete ich der alten Frau bei.
Sie nickte lächelnd. „Das ist wichtig im Leben“, sagte sie dann. „Dass man einen guten Platz für sich erwischt. Das kann nicht jeder von sich behaupten. Und manche … Manche haben es ganz gut erwischt und bemerken es nicht einmal.“ Sie nickte abermals und sah zu den Zweigen hoch.
Ich wusste nicht so recht, was ich mit ihren Worten anfangen sollte, hatte aber das Gefühl, dass sie auf eine Antwort wartete.
„Haben Sie es denn gut erwischt?“, fragte ich schließlich.
Die alte Dame nickte.
„Ich denke, das kann ich von mir sagen, ja.“ Sie hielt einen Moment inne und schien auf einen imaginären Punkt in der Unendlichkeit zu blicken.
„Hier zu sitzen“, sagte sie dann. „Unter diesem Apfelbaum, in der Sonne und eine nette junge Dame neben mir, mit der ich ein paar Worte wechseln kann … Ja, da habe ich es wohl gut getroffen. Man muss sich über diese Dinge freuen können, dann sind sie so viel mehr wert, verstehen Sie?“
Ich nickte sachte. Seltsam, aber es war, als hätten ihre Worte eine längst verschlossene Tür in mir geöffnet.
Von nun an trafen Brigitte und ich uns jeden Mittag. Wir verbrachten den Frühling miteinander und den Sommer und als auch dieser sich dem Ende neigte, begannen die saftigen roten Äpfel nach und nach vom Baum zu fallen.
Als wäre es unser unausgesprochenes Ritual, aßen wir jeden Mittag einen Apfel vom Baum. Doch eines Mittags schüttelte Gitte den Kopf.
„Heute nicht, Kind“, sagte sie, schenkte mir ihr vertrautes Lächeln, wirkte aber müde dabei.
„Gitte, geht es dir nicht gut?“ Sorge machte sich in mir breit und ich ließ meine Hand mit dem Apfel darin sinken.
„Doch, doch, es geht schon, Kind“, sagte sie und rang sich abermals ein Lächeln ab. „Weißt du, unser alter Freund hier“, sie deutete auf den Apfelbaum hinter uns. „Der zeigt uns den ewigen Kreislauf. In ein paar Wochen sind alle diese köstlichen Äpfel fort und der Baum sieht aus, als wäre er tot. Aber nichts stirbt wirklich ganz. Das müssen wir uns immer klar machen. Manchmal ist es der Frühling, der alles wieder aufleben lässt, manchmal sind es Erinnerungen. Aber so lange wir diese haben, ist nichts ganz gestorben. Das ist wichtig. Das dürfen wir nie vergessen, weil dann die Erinnerung in uns ein Licht anzündet.“
Ich nickte und wusste nicht so recht etwas zu sagen.
Das war das letzte Mal, dass wir uns an der Bank unter dem Apfelbaum trafen. In der darauffolgenden Nacht stürmte es und am nächsten Mittag lag die Bank voller roter Äpfel. Nur Brigitte saß nicht mehr auf der Bank um auf mich zu warten. Auch am nächsten Mittag kam sie nicht, und am Mittag darauf auch nicht …
Und als kurze Zeit später die Äpfel verschwunden waren und der Herbst die letzten gelben Blätter vom Baum fegte, saß ich allein auf unserer Bank und weinte leise.
Ich weinte und in meinen Gedanken hallten die Worte unseres letzten Gesprächs wider.
„…weil dann die Erinnerung in uns ein Licht anzündet.“
Die Tränen liefen mir über die Wangen, aber es breitete sich auch ein kleines, helles Lächeln auf meinem Gesicht aus und ergriffen flüsterte ich ein leises: „Danke, Gitte. Ich werde unsere Gespräche vermissen, aber ich werde mich auch immer an sie erinnern.“