Vogel-Frei
Ich war aufgeregt. Dieser Typ würde mich jetzt gleich in Trance versetzen.
Gut, er war Therapeut und wir hatten das Ganze besprochen. Immerhin wollte ich meine Aversion gegenüber Autoritäten in den Griff bekommen. Aber eine Hypnose? Ich seufzte ergeben.
Ich ließ mich also auf die ganze Sache ein, befolgte brav die ruhigen Anweisungen des Mannes neben mir und dachte an einen Vogel.
Warum an einen Vogel? Egal. Ein Vogel war so gut wie jedes andere Tier. Vielleicht sogar besser. Er konnte fliegen, er war frei.
Ein lautes Geräusch ließ mich aufschrecken und als ich meinen Kopf hob, sah ich links vor mir einen gefiederten Schwanz und eine große Schwinge, die sich zügig auf und ab bewegte. Das war ein … ein Vogel.
Ich drehte den Kopf. Rechts hinter mir war auch einer … und dahinter …
Erschrocken gab ich einen Laut von mir, der sich absolut nicht nach mir anhörte. Ich … schnatterte! Ich sah an meinem Körper entlang und erschrak. Oh Gott, ich war ein Vogel!
Ein Blick nach unten ließ Panik in mir explodieren. Ich trudelte und meine beiden Flügelmänner machten ihren Unmut über mein Flugdebakel lautstark deutlich. Flügel-Männer? Wohl eher Flügel-Vögel, dachte ich und gab mir Mühe, die disziplinierte Monotonie der anderen zurück zu erlangen.
Eine Weile flogen wir so dahin. Das war mir zu öde. Mann, ich war ein Vogel, das musste ich ausnutzen!
Ich sah mich um und entdeckte ein Stück weg von meiner Gruppe und ihrer Flugrichtung einen See. Hübsches Plätzchen. Ich beschloss, dorthin zu fliegen.
Lautstarkes Schnattern und Krächzen ertönte, als ich beherzt aus der Formation ausbrach. Ich konnte zwar keine genauen Wörter verstehen, aber die Bedeutung des Protestes war mir vollkommen klar: „Ey, du Vollpfosten, bleib auf deinem Platz. Du gefährdest die Gruppe!“
Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, war ich auch schon wieder an meinem Platz und fügte mich dem tierischen Instinkt, der meinen Körper zu lenken schien.
Natürlich gab ich mich damit nicht zufrieden. Wer war ich denn?!
Der nächste Versuch endete genau so wie der erste und auch der übernächste hatte kein anderes Ergebnis zur Folge. Ich schnatterte nun meinerseits verärgert, fügte mich aber schließlich in mein Schicksal.
Wir flogen eine ganze Zeit so dahin. Ich hing meinen Gedanken nach, betrachtete meinen Flügel-Vogel links vor mir und passte mich unabsichtlich seinem Tempo an. Ich ließ mich treiben in diesem gleichmäßigen Miteinander und mit einem Mal bemerkte ich, dass es mir gut tat, ja sogar Spaß bereitete. Wir waren wie eine Einheit und es machte mir Freude mich so zu bewegen, dass es zu den anderen passte und ihre Bewegungen zu den meinen.
Dann hörte ich ein lautes Klacken. Ich öffnete meine Augen und die Erde unter mir war verschwunden. Jetzt sah ich über mir eine weiß gestrichene Decke.
„Wie geht es Ihnen? Wenn Sie sich dazu bereit fühlen, dürfen Sie sich hinsetzen.“
Die Stimme kam mir bekannt vor … ach ja, der Hypnosetyp. Ich drehte den Kopf und sah den Mann auf einem Stuhl neben mir sitzen. Er lächelte mich freundlich an. Ich setzte mich auf.
„Ich war ein Vogel“, stellte ich sachlich fest.
„Ah“, er nickte. „Also konnten Sie fliegen und waren frei.“
Ich sah ihn irritiert über seine Wortwahl an und wollte ihm Recht geben. Dann aber schüttelte ich den Kopf.
„Nein, da haben Sie etwas völlig Falsches im Kopf. Vögel sind gar nicht so frei, wie alle meinen“, belehrte ich ihn. „Es ist vielmehr so, dass sie eine wunderbare Einheit bilden und jeder auf den anderen achtet. Sie sind irgendwie gemeinsam frei.“
Ich blickte einen Moment in Gedanken versunken auf meine Schuhe. Dann sagte ich fast kleinlaut: „Es hat mir Freude gemacht.“
Mein Gegenüber nickte sachte. Dann lächelte er und dieses Lächeln schien sehr vieles zu sagen.