Schwarzer Tod
Unendliche Schwärze umhüllte ihren Geist. Doch plötzlich und ohne Vorwarnung kam er in Bewegung, wurde, wie ein Eisenstück von einem Magneten, aus den gnädigen Tiefen der Ohnmacht unaufhaltsam Richtung Oberfläche gezogen, bis er sie schließlich durchbrach und wieder in die Welt des Bewusstseins zurückkehrte.
Als sie ihre schweren Augenlider blinzelnd öffnete, explodierte sofort ein Feuerwerk aus grellen Schmerzblitzen in ihrem Kopf, das sie gequält aufstöhnen ließ. Reflexartig schloss sie die Augen wieder und begann bewusst tief ein- und auszuatmen, um so den stechenden Kopfschmerz auf ein halbwegs erträgliches Maß zu senken. Bereits nach kurzer Zeit begann diese spezielle Atemtechnik ihre erhoffte Wirkung zu entfalten. Vorsichtig öffnete sie erneut die Augen und eine Panikwelle durchströmte ihren Körper.
Unbemerkt von der gigantischen Menschentraube am Boden zog er seine Kreise. Seinen wachen Augen entging nichts, er registrierte jede Bewegung, jedes Wort der freudig erregten, ungeduldigen, brodelnden Menge. Langsam ließ er sich auf den Kirchturm sinken, von dem aus er die Szenerie aus sicherer Entfernung betrachten konnte. Erbost schüttelte er den schwarz schimmernden Kopf. Es passierte erneut. Dass diese Menschen, diese wilden Kreaturen, es nicht lassen konnten, ihresgleichen auszulöschen. Verachtenswerter Abschaum!
Freya stand auf einem großen Scheiterhaufen inmitten des Dorfplatzes, umgeben von einem Meer aus Menschen, in deren Gesichtern sie Mordlust, Gier, Vor- und Schadenfreude lesen konnte. Es schien, als hätte sich jeder Dorfbewohner hier eingefunden, um dem Spektakel – ihrer Hinrichtung – beizuwohnen. Sie war an einen massiven Holzpfahl gefesselt, unfähig, sich zu bewegen. „Unsere kleine Hexe hat endlich ihr Nickerchen beendet!“, hallte plötzlich eine laute, männliche Stimme über den Platz hinweg. „Wurde aber auch Zeit. Na, ausgeschlafen?“ Die versammelten Schaulustigen brachen in schallendes Gelächter aus und begannen nun ungeduldig in einem lautstarken Chor vehement ihren Tod zu fordern. Doch sie bemerkte dies nur am Rande, denn sie spürte plötzlich seine Anwesenheit. Suchend scannte sie die den runden Dorfplatz säumenden Gebäude ab – und entdeckte ihn. Auf der Kirchturmspitze. Klein, schwarz, unscheinbar, ein stiller Zeuge, der sie und das Schauspiel aufmerksam beobachtete. Niemand außer ihr nahm von ihm Notiz. Erleichterung durchströmte sie trotz der bedrohlichen Situation, in der sie sich befand, denn sie wusste, dass sie nicht mehr allein war. Sie schloss ihre Augen und sendete ihren Geist zu ihm hinauf.
Seine Augen blitzten, während er alles mitverfolgte. Ihre stummen Worte hallten in seinem Kopf wider, erfüllten ihn mit Zorn. Er stieß sich entschlossen vom Kirchturmdach ab, erhob sich elegant in die Luft, zog erneut seine Kreise weit über dem Scheiterhaufen und krächzte dreimal laut auf, um ihr akustisch zu signalisieren, dass er sie verstanden hatte. Dann drehte er ab und flog Richtung Wald. Es war an der Zeit, zu handeln.
Die lautlose Kommunikation hatte geklappt, er hatte ihre stumme Botschaft erhalten, verstanden und geantwortet. Sie blickte in den Himmel und sah, wie er eine Schleife beschrieb, ehe er aus ihrem Sichtfeld verschwand. Freya hatte seine Wut, seine Entschlossenheit gefühlt, was sie sehr zuversichtlich stimmte. Sie wusste, dass sie auf ihn zählen, ihm vertrauen konnte.
Pfeilschnell schoss er in den Wald und steuerte zielstrebig die alte, knorrige Eiche an, die ihm und seinem Schwarm als Unterschlupf diente. Er übertrug seinen unbändigen Zorn auf seine Kameraden, die sich ohne zu zögern erbost in die Lüfte schwangen und sich als Unheil verkündende, schwarze Wolke auf den Weg machten.
Freya spürte ihre Ankunft. Sie blickte in den Himmel und lächelte, als sie den gigantischen Schwarm sah, der sich unheilschwanger vor die Sonne schob. Der in eine dunkle Kutte gehüllte Vollstrecker wollte gerade den Scheiterhaufen mit seiner Fackel entzünden, doch dazu kam es nicht mehr.
Als Anführer fiel er als Erster auf sein auserwähltes Opfer, den Henker, herab und zerfetzte dessen Kapuze mit seinen scharfen Krallen in Sekundenschnelle. Sein Schnabel hackte aggressiv nacheinander in beide Augen des Vollstreckers, der wie ein gepeinigtes Tier kreischte. Die Fackel fiel dabei auf den Boden und erlosch. Wie auf einen stummen Befehl hin, stürzte sich nun auch der Rest der schwarzgefiederten Armee wie Todesboten krächzend auf die Menschen, niemand wurde verschont, die Raben zeigten keine Gnade, ihre Mordlust kannte keine Grenzen. Die panischen Schreie verschmolzen zu einer schrillen Kakophonie der Qualen.
Schon bald herrschte Totenstille auf dem Dorfplatz und Freya sah zufrieden auf den mit Leichen gepflasterten Boden hinab.