17
Ich starb, als ich 17 war. 17 Jahre später wachte ich wieder auf. An einem 17.
Aber der Reihe nach. Ich war ein aufgewecktes Kind. So sagte man. Meine Oma und meine Tanten. Ich sagte das weniger. Erstens, weil ich nichts mit dem Wort anzufangen wusste, was bedeutete schon aufgeweckt, wurde man nicht jeden Morgen aufgeweckt, und zweitens, weil ich mich nicht so fühlte.
Sie wohnte in der 17. Natürlich. Jeden Tag ging ich auf dem Weg zur Schule an ihrem Haus vorbei. Und jeden Tag hoffte ich, sie würde in diesem Moment auf die Straße treten, unsere Blicke würden sich treffen und alles wäre klar. Nichts passierte. Ob es daran lag, dass sie eine Klasse über mir war oder daran, dass sie mit dem Fahrrad fuhr – ich weiß es nicht. Ich traf sie nie. Jedenfalls nicht auf dem Weg zur Schule.
Bis zu diesem einen Tag. Ich war woanders langgegangen, eine Abkürzung, weil ich spät dran war und es eilig hatte. Sonst hatte ich immer den Umweg über ihre Straße genommen, in der Hoffnung, sie zu sehen. Ich war verschwitzt und so wollte ich ihr unter gar keinen Umständen begegnen.
Doch ausgerechnet heute traf ich sie. Keine Ahnung warum, es war für sie ein Umweg, aber nun stand sie auf der anderen Straßenseite. Etwas an ihr war merkwürdig. Eigentlich sah sie aus wie immer, wunderschön, ihre Klamotten perfekt aufeinander abgestimmt. Trotzdem war sie zerzaust, weniger äußerlich, vielmehr schien sie irgendetwas aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben.
Ich wollte eigentlich nicht, dass sie mich so sah und so duckte ich mich hinter einen Altglascontainer. Aber sie hatte mich bereits entdeckt und rief mich. Was mich verwunderte, hatte sie – so war mir jedenfalls – nie wirklich Notiz von mir genommen.
Mir fiel noch auf, dass auf dem Container stand, dass man nur bis 17 Uhr einwerfen dürfe, dann setzte ich mich in Bewegung und lief auf sie zu.
In diesem Moment kam der Wagen von rechts.
Als ich wieder aufwachte, war nichts mehr, wie es war. Sie saß neben meinem Bett und hielt meine Hand. Dass ich 17 Tage im künstlichen Koma gelegen hätte, sagte sie und dass die Ärzte mich jetzt aufgeweckt hätten. Aufgeweckt. Da war es wieder.
Außerdem sei sie schwanger. Ich konnte nichts sagen, deswegen fragte sie mich, ob ich mich gar nicht freuen würde. Warum ich mich freuen solle, entgegnete ich, und wieso sie mir das erzählen würde. Sie lächelte milde und meinte, ich sei wohl noch nicht ganz wieder hergestellt, aber dass das Kind natürlich von mir sei.
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie verändert aussah, älter, die Haare kürzer. Und stärker geschminkt war sie.
Was denn überhaupt passiert sei, wollte ich wissen, und dass ich mich an nichts erinnern könne. Das stimmte nicht ganz, ich konnte mich gut erinnern. An die Straße, an den Altglascontainer und dass sie mich gerufen hatte. Doch mich beschlich das Gefühl, dass die Dinge sich gewaltig verändert hatten.
Sie erzählte mir von einem Unfall. Dass wir gemeinsam unterwegs gewesen seien, zu ihren Eltern, und dass ich dann die Kontrolle über unseren Wagen verloren hatte und auf die Gegenfahrbahn geraten sei.
Jeder andere hätte innerlich jetzt womöglich Purzelbäume geschlagen. Ein Leben mit ihr, das hatte ich mir immer ausgemalt in meiner jugendlichen Fantasie. Ich hätte es einfach geschehen lassen können, ein paar Tage oder Wochen noch im Krankenhaus, dann als geheilt entlassen und Arm in Arm mit ihr in den Sonnenuntergang.
Doch es war falsch, etwas in mir sträubte sich.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich musste sterben. Noch einmal. So schön diese Zukunft auch war, so gerne ich sie mit ihr gelebt hätte, es war nicht meine. Ich hatte sie jemandem weggenommen, wem auch immer und wie auch immer das passiert war.
Ich stand auf dem Fenstersims des Krankenzimmers und schaute nach unten. Jemand rief meinen Namen von weit her. Ich schloss die Augen und sprang.
Alles war wieder wie vorher. Da war wieder die Straße mit dem Altglascontainer. Sie rief mich von gegenüber, ich lief auf sie zu. Aus dem Augenwinkel konnte ich noch die Einwurfzeit erkennen. Dort stand – 18 Uhr.
In diesem Moment kam der Wagen von rechts.