Diese Geschichte schrieb @lena_schreibt_ All age Literatur

Alles fremd

„Mamma, ti piacerebbe…“, begann Jack, doch er sollte nicht zum Schluss kommen.

„Ah ah ah“, unterbrach seine Mutter ihn mit erhobenem Zeigefinger und sah dabei von ihrem Laptop auf. Mit einem Augenverdrehen erhob sie sich, kam auf Jack zu und richtete seinen Hemdkragen. „Wir sprechen kein Spanisch mehr, hast du das vergessen?“

„Oh. Ich weiß. Entschuldige.“ Jack hatte es nicht einmal gemerkt, dass er in seine Muttersprache verfallen war. Seit dem Umzug aus Florida nach Deutschland kam täglich eine Lehrerin zu ihnen nach Hause, die der ganzen Familie Deutschunterricht gab. Jack sollte damit der Einstieg ins Schulleben erleichtert werden, seine Eltern erhofften sich in Europa zahlreiche Hoteleröffnungen ihrer erfolgreichen Kette.

„Möchtest du vielleicht etwas im Garten machen?“, fragte Jack, diesmal auf der richtigen Sprache.

Mit einem Seufzen sah seine Mutter auf die Uhr. „Die Gala ist in einer Woche, Jack, kannst du dir vorstellen, was bis dahin alles gemacht werden muss?? Und musst du nicht noch Klavier üben? Flöte? Geige? Hast du deine Japanisch-Vokabeln wiederholt?“

Jack nickte und machte kehrt, um seinen Vater zu suchen. Weder die Küche, noch das Wohnzimmer, noch die drei Arbeitszimmer zeigten eine Spur von ihm. In der Eingangshalle hatte Jack jedes Mal das Gefühl, selbst sein Atem würde von den hohen Wänden und dem Marmorboden widerhallen.

Er trat in den Garten hinaus, ließ den Blick über das fremde Grün schweifen und nahm im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sein Vater saß auf der alten Holzbank, welche die Vorbesitzer an der Hauswand stehengelassen hatten. Jacks Mutter hatte sie längst wegwerfen wollen, doch sein Vater hatte sich diesen Platz ausgesucht, um dort an der frischen Luft zu arbeiten. Er tippte auf seinem Smartphone herum, die Stirn gerunzelt, Kopfhörer im Ohr. Jack biss sich auf die Lippen und beobachtete ihn, dann schlenderte er langsam auf ihn zu. Er konnte nicht einschätzen, ob er gerade erwünscht oder eher ein Störfaktor war, also gesellte er sich einfach still dazu und setzte sich.

Im Nachbarsgarten war ein lautes „BUH“ zu hören, dann das Schreien und Lachen zweier Kleinkinder, anschließend ein lautes Platschen, gefolgt von wildem Planschen. Und obwohl Jack das gar nicht wollte, versetzten ihm die Geräusche Stiche in der Brust.

Sein Vater schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Nach einigen Minuten legte er eine Hand auf der Holzbank ab und lehnte sich an die Hauswand, nahm den Blick jedoch nicht vom Bildschirm. Jack musterte die Hand. Ein paar Momente wartete er ab, dann näherte er sich mit seiner Hand der seines Vaters. Sie einfach nur zu halten, würde ihm genügen, um sich besser darauf konzentrieren zu können, sein Zuhause zu vergessen und in die Zukunft zu sehen. Doch genau in dem Moment, wo Jack die Hand nehmen wollte, zog sie sein Vater nach oben, um etwas auf seinem Handy anzutippen.

Jack schluckte, als der Schmerz in seiner Brust nahezu unerträglich wurde. Er riss den Blick nach vorn und kniff die Augen zusammen, als er genau in dem Moment durch die Büsche am Gartenrand hindurch eine schnelle Bewegung wahrnahm. Er durchquerte den Garten und näherte sich den Zweigen, schob sie beiseite und erhaschte eine Person, welche mit dem Rücken zu ihm am Boden kauerte. Einer der Zweige knackte, da drehte sich die Person erschrocken um. „Sh, du verrätst mich noch, ich verstecke mich vor meinem Freund!“ Es war ein Junge mit wilden blonden Haaren und Augen, die so dunkel waren, dass man kaum eine Iris erkennen konnte. Er hielt eine Wasserpistole vor seiner Brust, auf seinem T-Shirt zeichneten sich überall nasse Flecken ab. Jack musterte ihn perplex. Bevor er etwas sagen konnte, bemerkte der Junge: „Hey, du standest doch vor den Sommerferien bei uns an der Schule.“

„Così ho…“, nein, kein spanisch! Jack wurde rot. „Ich, äh… wir haben mich angemeldet“, stammelte er.

„Ach echt, in welche Klasse kommst du? Voll cool übrigens, dass du spanisch sprichst. Das würde ich auch gerne lernen.“

Ein Lächeln legte sich über Jacks Gesicht. „7b.“

„Echt?? In der ist mein Freund. Ich bin in der fünften. Dan“, er verdrehte den Oberkörper, um Jack die Hand zu reichen.

Jacks Herz begann, zu klopfen. „Jack“, sagte er mit strahlenden Augen und kroch durch die Zweige hindurch, um sich neben Dan zu setzen.

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