Diese Geschichte schrieb pilastro.de @susanne_pilastro_autor Romantik

Gipfeltreffen

Wann beginnt eine Reise? Wann fällt der Startschuss? Ist es der Moment, wenn man sich die Schnürsenkel gebunden hat? Oder beginnt eine Reise mit der Anfahrt? Oder beginnt sie bereits bei der Planung? Hat die Reise am Ende da begonnen, an dem man eine Ahnung dessen hat, was man tun möchte? Dass man Reisen will …? Oder beginnt eine Reise, wenn man ihr Ziel erreicht hat?

Ist das Ende der Anfang?

Und der Anfang das Ende?

In irgendeinem Wandermagazin hatte Richard einmal gelesen: „Wer den Weg nicht als das Ziel sieht, braucht sich gar nicht erst auf den Weg zu machen.“ Hieß das nun, die Route sei so kurz, dass man am Ende meint, nichts geleistet zu haben? Oder bedeutete es, die Route, die einem bevorsteht, wäre zu schwer und man solle froh sein, wenn man nur einen Teil davon schaffen und sich am Ende doch zum Abbruch entscheiden würde?

„Zig Menschen sind ihn schon gegangen, diesen Weg“, sprach Richard sich gedanklich Mut zu. Gefolgt von der Erkenntnis: Nicht alle bis zu seinem Ende; manche waren auf der Strecke geblieben, manche irgendwo abgebogen, manche umgekehrt …

Und er …?

Warum stand er hier und machte sich einen Kopf? Nun … Es war schließlich nicht der Jakobsweg, den sie hier vor sich hatten …!

Richard prüfte die Wetterlage. Die Wolkendecke ließ kein Sonnenlicht hindurch, der Himmel weinte, wenn auch kaum merklich. Trotzdem hörte man die kleinen Tropfen auf dem Regencape. Das Gepäck für die heutige Wanderung war – verglichen zu anderen Touren, die er und Merle schon unternommen hatten – leicht: nur Wasser für die Trinkpausen; eine Brotdose mit bereits in mundgerechte Stücke geschnittenen Äpfeln; zwei Powerriegel, die in etwas so schmeckten wie Nougat ummantelte Bauschaumscheiben oder schokolierte Knetmasse.

Sie hatten diese Tour vor Monaten geplant; es war beiden bewusst gewesen, dass die Natur ihnen vielleicht einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Aber wer rechnete Mitte August mit derart mistigem Wetter? Ob es ein Omen war?

„Na, dann … Wollen wir?“ Merle lächelte entschlossen.

Sie folgten der Beschilderung, die sie zu einem Forstweg leitete. Moderat ging es bergauf, die viel gepriesene Aussicht verbarg sich hinter den dichten, grauen und regenschweren Wolken. Nach einer dreiviertel Stunde ließen sie die Abzweigung zur Edelweißhütte links liegen und folgten weiter der Beschilderung, die man – wegen der dichten Wolken – nur lesen konnte, wenn man direkt davorstand.

„Köstnerspitze: eine Stunde“, las Merle und lächelte ihn an.

Der Stieg war anfangs noch flach, wurde schließlich immer steiler. Richard kam ins Schwitzen und das Atmen fiel auch Merle deutlich schwerer. Als der Weg etwas abflachte, gaukelte die Landschaft nebelverhangenes schottisches Hochland vor: man sah die grünen Wiesen und den darüber wabernden Nebel. Das Sonnenlicht drang noch immer nicht durch die Wolkendecke, die nach wie vor ihr Ziel, das Gipfelkreuz, verschluckt hielt.

Die in den Stein verankerten Stahlseile wiesen ihnen den Weg, vorsichtig setzten sie einen Schritt vor den anderen. Der schmale Pfad führte, deutlich steiler werdend, nach oben. Gleichzeitig wurde es merklich heller, denn jeder Höhenmeter führte weiter und weiter aus dem Wolkenmeer. Wie ein Ertrinkender mit dem Bedürfnis nach Sauerstoff über dem Meeresspiegel drängte es Richard nach vorne. Endlich hatten sie die Wolkendecke durchbrochen und wurden von strahlendem Sonnenschein empfangen.

Die Aussicht auf die Spitzen der benachbarten Gipfel, die herausragten wie Eisberge in polarem Wasser, war:

„Atemberaubend schön!“ Merles Brustkorb hob sich merklich, als sie die klare Luft einatmete, während sie den Blick über das Panorama schweifen ließ.

„Ja, atemberaubend“, wiederholte Richard, hatte aber nur Augen für seine Verlobte.

Eine Frau stand am Kreuz und betrachtete ebenfalls die wundervolle Aussicht. Als sie die beiden Neuankömmlinge bemerkte, wandte sie sich ihnen zu. „Sie sind pünktlich!“, freute sie sich. „Wie war der Aufstieg?“

„Durchwachsen“, entfuhr es Richard.

„Nun ja“, schmunzelte die Frau. „Auf dem Weg, den Sie vor sich haben, wird auch nicht immer eitel Sonnenschein herrschen. – Sind Sie bereit?“

Richard blickte zu Merle, die schenkte ihm einen liebevollen Blick. „Wenn du es bist, bin ich es auch“, hauchte sie.

„Ja!“ Richards mulmiges Gefühl war mit einem Mal wie weggeblasen.

Alle weiteren Fragen der Standesbeamtin beantwortete er ebenfalls mit einem klaren und weithin vernehmlichen „Ja“, während die Sonne ihren Lauf nahm, dort – über dem Wolkenmeer.

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