Der Traum
Die Tür des alten Hauses zieht sie an, als hinge sie an einer Seilwinde. Schon ewig war sie nicht mehr da. Seit Jahren tummeln sich ihre Eltern mit ihnen in verschiedenen Ländern der Welt herum. Der blattlose Strauch an der linken Mauer wirft gespenstische Schatten und sieht ganz anders aus als in ihrer Erinnerung. Eher lebensfeindlich als voll mit Saft und Kraft. Langsam tritt sie auf die hölzerne Türe zu. Flüstert sie ihr etwas zu? Plötzlich werden ihre Füße leicht, ebenso ihr Körper. Verwundert sieht sie sich um, dann segelt sie ein paar Zentimeter über den Weg mit den groben Steinen, steigt weiter auf, wie ein prall gefüllter Luftballon. Sie schaut auf ihre schwarzen Riemchenschuhe herunter, sieht das adrette karierte Mädchenkleid mit Plisseefalten, das Mama ihr zum achten Geburtstag geschenkt hat. Hannah breitet die Arme aus, luftig wie ein Adler, kräftig wie ein Bär. Behutsam schwebt sie höher, wird mutig, lässt sich mit der Luft in den Garten gleiten. Hier herrscht sommerliches Grün. Die Rosensträucher duften und sind übersät mit Blüten in prachtvollen Rottönen. Am Zaun steht das Gartenhaus, ihre Schwester und sie spielten dort gerne Verstecken, bis sie zum Essen gerufen wurden. Die graugetigerte Nachbarskatze drückt sich an der Wand entlang und knabbert an Grashalmen. Da ist der Baum mit den saftigen reifen Pflaumen. Nicht eine einzige war nach dem Öffnen je frei von Würmern. Sie schmeckt die Enttäuschung auf den Lippen. Ihr Kopf dreht sich zum offenstehenden Fenster im Souterrain. Oma steht am Herd und rührt inbrünstig in einem riesigen Metalltopf. Es brodelt und klappert. Der Blick ihrer Großmutter ist hochkonzentriert, die Falten über der Stirn sehen aus wie Wellen im Wattschlick. Draußen wird es mit einem Schlag dunkler, ein rauer Wind kommt auf. Die Härchen auf ihren Armen stellen sich auf. Oma schüttet weißes Pulver in den Topf. Ob sie Mus aus Obst kocht? Pflaume mit Wurm? Hannah schüttelt sich in der Luft stehend vor Ekel. Sachte schwebt sie auf das Haus zu, da kracht es über ihr. Verschreckt zuckt sie zusammen. Die darauffolgende Stille ist unerträglich. Fasziniert erblickt sie eine glänzende Kugel, die sich wirbelnd dem Fenster nähert und in den Raum eindringt. Das runde Gebilde umkreist Oma, streift an ihrem grauen Dutt vorbei, scheint eine Prise Duft aus dem Kochtopf zu nehmen. Mit einem Schlag steht ihre Großmutter lichterloh brennend wie eine angezündete Vogelscheuche am Topf, wild mit den Armen wedelnd. In der Küche herrscht Chaos wie in der Hölle. Hannah kreischt ohrenbetäubend und hört nicht mehr auf. Sie hat das Gefühl, endlos zu fallen. Ihr ist so kalt wie vorhin, nach dem Essen. Sie sollte sich schlafen legen, hat aber stattdessen am Fuß der Treppe Opas gruseligen Geschichten gelauscht. Die Tür fliegt auf, im Schein der Straßenlaterne sieht sie ihre Eltern hereinstürmen. Mama nimmt Hannah in ihre Arme und wiegt sie, Papa setzt sich dazu.
„Kleines, hattest du einen Albtraum?“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich war eben im Garten, Oma hat im Keller Mus gekocht und wurde vom Kugelblitz getroffen. Ich hab es gesehen.“ Sie schluchzt. „Ich konnte nichts machen.“ Mama schmiegt sie enger an sich und streicht ihr die Haare aus dem verweinten Gesicht. Sie drückt ihr einen Kuss auf die Nase und schaut zu Papa. „Versuch zu schlafen, Süße. Oma liegt oben im
Bett und schläft seit zwei Stunden. Du hast nur schlecht geträumt.“ Dann murmelt sie: „Sie muss heimlich zugehört haben, als dein Vater von der Geschichte mit dem Kugelblitz berichtet hat. Nur gut, dass der damals zum anderen Fenster wieder hinausgerollt ist. Wenn es mal nicht eine Halluzination war. Aber er hat es mit solcher Inbrunst erzählt und finster ausgeschmückt.“ Hannah schließt die Augen, sie ist müde. In Mamas Nähe fühlt sie sich geborgen. Der Blitz hat ihr mächtig Angst eingejagt, die Schauer jagen ihr jetzt noch über den Rücken, trotz der warmen Decke. Aber das Schweben … das hat ihr gefallen. Das will sie unbedingt nochmal wiederholen.