Die Tür
Sollte leicht sein, so ein Schritt. Einfach einen Fuß vor den anderen setzen, das Gewicht verlagern und schon ist ein weiteres Stück des Weges geschafft.
Ist es aber nicht. Auch wenn wir das vergessen haben. Oder verdrängt.
Gab mal eine Zeit, da war es das Schwerste, was das Leben zu bieten hatte. Einen Schritt vor den anderen setzen, aufrecht bleiben, weitermachen.
Das Gleichgewicht muss mitspielen, man muss wissen, wo sich der eigene Körper befindet, damit man sich nicht selbst im Weg steht. Und zu wissen, wo man sich befindet, wo man hin will, ist auch hilfreich.
Nun, klare Sache: Ich steh vor der Tür, die ich seit 34 Jahren kenne. Sah anders aus, damals und auch zwischendurch. Gab mal mehr Efeu, Schwalbennester, dazu eine Fassade, die auch bessere Zeiten gesehen hat, genau wie das ausgebleichte Holz der Tür selbst. Aber so wie jetzt ist sie schon länger. Als würde die Zeit still stehen, eingefroren sein, seit dem Moment, als die Träger herausgekommen waren, und ich hinter ihnen die Tür verschlossen hatte.
Hatte seit dem die Tür nicht mehr angerührt. Den Schlüssel oft. Ein feiner Schlüssel aus brüniertem Eisen, mit verspieltem Ornament an dem einen und einem abgewetzten Bart an dem anderen Ende. Trage ihn jetzt seit zwei Jahren mit mir herum. Im Gegensatz zu der Tür ist er von der Zeit unbeeindruckt. Stilles, geduldiges Potenzial, das nur auf einen Impuls wartet, eine Entscheidung. Vielleicht auf Mut.
Ich weiß also, wo ich mich befinde. Über das Wohin und das Wollen hingegen bin ich mir unsicher.
Hinzugehen, die Tür zu öffnen und einzutreten, würde bedeuten, einen Teil meines Lebens abzuschließen, endgültig zu beenden. Ist freilich Selbstbetrug. Dieser Teil ist seit zwei Jahren Vergangenheit, aber ich rede mir ein, dass es dieser letzten Handlung bedarf, um es endgültig zu machen. Ich muss die Box öffnen, um dem Inhalt Realität zu geben.
Eine süße Illusion.
Der Fuß hebt sich wie von selbst, habe damit praktisch nichts zu tun, was sich auch mein Gleichgewichtssinn denkt und mich im hellen Sommerlicht Schwanken lässt. Aufrecht bleiben, darauf kommt es an. Zumindest äußerlich. Innerlich liege ich bereits am Boden.
Kies knirscht unter meinen Füßen. Bin tausende Male über ihn gegangen, gerannt, hin und wieder auch gewankt. Süße Jugend und so. Jeder Schritt tritt auf eine Erinnerung.
Und dann stehe ich vor der Tür. Stehe richtig vor ihr, auch wenn es mir vorher bereits nah vorkam. Jetzt meine ich, ich könnte die alte, abblätternde Farbe in der Sommerhitze riechen, sehe die feinen Risse in der Tür. In meiner Hand spüre ich den Schlüssel, fühle jede Unebenheit wie tiefe Täler zwischen hohen Bergen.
Könnte umdrehen, die Box geschlossen halten, die von Schrödinger genauso wie jene von Pandora. So, wie es schon seit zwei Jahren ist, obwohl, oder gerade weil ich weiß, dass nichts mehr darin ist.
Nichts kann verdammt viel sein.
Zeit, sich ihm zu stellen.
Mit dem Schlüssel schiebe ich das kleine Metallplättchen zur Seite, dass das Schlüsselloch verdeckt, und stecke den Schlüssel ein. Zwei kurze Drehungen, ein Klacken und ein kurzer Druck genügen. Die Tür schwingt auf und offenbart das Innere des Hauses.
Das Sommerlicht zeichnete ein helles, scharfkantiges Rechteck auf den Dielenboden. Vor den von Gardinen bedeckten Fenstern ist das Licht diffuser und von Schatten verziert. Staub wirbelt in dem plötzlichen Luftzug auf, lässt ihn über Bilderrahmen auf Regalen tanzen, über Fotoalben und Möbel.
Es ist alles so, wie ich es damals nach den Trägern zurückgelassen hatte. Genau das, was ich befürchtet hatte.
Wobei, ein Detail ist anders, hat sich gerade verändert. Neben meinem rechten Fuß ist ganz plötzlich die Spur einer Träne erschienen.
Weiter gehen, Haltung bewahren, schärfe ich mir ein. Ein Rat aus der Vergangenheit. Beschließe, ihm zu folgen.
Ich trete ein, gehe vom Knarzen der Dielen begleitet in den Wohnraum, dem Ort meiner Kindheit.
Ich starre mich selbst aus einer Wiege an, aus den Armen von Menschen, die schon lange fort sind.
Hier ein Foto meines Uni-Abschlusses.
Dort das Bild der Hochzeit meiner Eltern. Fast meine ich, ihr Lachen zu hören.
Wünschte, ich könnte es wirklich hören.
Aber sie sind fort, rausgetragen, gemeinsam. So wie sie es immer wollten.
Nur ich bin hier. Alleine inmitten von Erinnerungen und fallenden Tränen.
Zeit zum Trauern.