Diese Geschichte schrieb @_a_d_farbenreich_ Liebe

Dein Abend am Steg

Ich muss mir ein Grinsen über deine Tollpatschigkeit verkneifen. Beinahe hättest du beim Versuch, einen kastaniengroßen Stein vom Steg zu kicken, eine mittelgroße Katastrophe verursacht. Nur um ein Haar ist es mir gelungen, dich zurückzuhalten und vor einem Sturz in den herbstlich kühlen Badesee zu bewahren, obwohl ich zugeben muss, dass ich dich auch mit nassem Gewand und verwischtem Make-up wunderschön gefunden hätte.

„Lach nicht!“, wirfst du mir an den Kopf, dabei kannst du selbst nicht ernst bleiben. Ich sehe es an deinen Augen, an den kleinen Fältchen herum, die sich nur bilden, wenn du lachst. Noch immer halte ich dich fest, noch immer bin ich mir nicht sicher, ob ich dich wieder in die freie Wildbahn des Stegs entlassen kann, oder ob ich dich nicht doch in nächster Sekunde aus dem Wasser ziehen muss.

Wenn du wüsstest, wie sehr ich deine Tollpatschigkeit liebe. Wie sehr ich alles an dir liebe.

„Ich lache gar nicht“, kontere ich eher schlecht gelogen und kämpfe genauso wie du damit, mir dieses verdammte Grinsen im Gesicht nicht anmerken zu lassen.

Dann hälst du es plötzlich nicht mehr aus und prustest los. Laut schallend lachst du in den heranwachsenden Abend, so hell und herzlich, dass ich sicher bin, dass sogar die Fische am Grund des Badesees kurz ihre Köpfe in unsere Richtung strecken und die Leute am Hauptplatzcafé der kleinen Ortschaft sich fragen, was denn hier am Steg los sei.

Ich ziehe dich ein Stück vom Rand des Holzbodens weg und vergewissere mich, dass du trotz deines Lachanfalls alleine stehen kannst.

„Jetzt sag schon, was ist so lustig?“, frage ich dich.

„Du bist lustig!“, rufst du und streifst dir mit der rechten Hand den linken Schuh vom Fuß. Erst jetzt bemerke ich, dass der rechte Schuh fehlt. Verdattert starre ich erst auf deinen Fuß, dann in dein Gesicht. Du deutest in Schussrichtung des Steins, den du vorhin ins Wasser befördert hast und ich verstehe, was dich so erheitert: Dein rechter Schuh treibt auf der Wasseroberfläche, meterweit vom Steg entfernt.

Ich überlege gar nicht lange. Blicke dir nur fest in die Augen, während ich Anlauf nehme und springe. Betäubt von dir nehme ich das kalte Wasser nur gedämpft wahr. Ich tauche deinem Schuh hinterher, fange ihn, wie einen trägen Fisch, und als ich auftauche, winke ich dir damit zu – doch du bist fort.

In Wahrheit stehe ich hier am Steg, alleine, und erinnere mich daran, wie ich dich damals bewusstlos aus dem Wasser gezogen habe. Keiner hat wissen können, dass es genau an diesem Tag passiert. Wir haben die Angst gespürt wie einen kalten Atem im Nacken und uns vielleicht auch deshalb so geliebt, weil wir wussten, dass alles mit uns beiden begrenzt war. Dass WIR begrenzt waren. Deine Krankheit war unser ständiger Begleiter, sie war ein Teil von uns beiden, und uns war klar, dass sie dich irgendwann mit sich nehmen und mich alleine zurücklassen wird.

Warum an diesem Tag? Warum gerade dann, als ich nicht bei dir sein konnte? Als ich nach einem bedeutungslosen Schuh für dich tauchte? Wie wertlos doch plötzlich ein Gegenstand sein kann. Zu gerne hätte ich dich aufgefangen, anstatt dem Schuh nachzujagen, dann wärst du nicht sterbend ins Wasser gefallen. Die Schuhe sind schuld, rede ich mir oft ein. Ich ertrage es nicht, sie noch länger aufzubewahren und unserer Zeit hinterher zu trauern.

Ich hebe das Paar vom Steg auf, genau von dort, wo damals der Stein gelegen hat. Fest umklammere ich den rosafarbenen Stoff und die abgenützten Korksohlen – wir sind viel spazieren gewesen in deinen letzten Lebensmonaten und du hast sie gerne getragen – und dann werfe ich, so fest ich kann. Viele Meter weit fliegen sie hinaus über den See.

„Ich liebe dich“, flüstere ich leise. Die Schuhe tauchen in das Wasser ein, es platscht laut, und ich wünsche mir zu glauben, dass das aufgescheuchte Wasser mir damit „Sie dich auch“ zuflüstern möchte.

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