Diese Geschichte schrieb pilastro.de @susanne_pilastro_autor Familiendrama

Walkin` in my shoes

Stille war eingekehrt. Aber Stille bedeutete nicht unbedingt automatisch Ruhe und schon gar nicht Entspannung … Emmas Blick huschte unruhig hin und her, als wollte sie sich schnellstmöglich einen Überblick verschaffen, unschlüssig jedoch, was sie als erstes betrachten wollte. Also fixierte sie nur kurz den moosgrünen Sessel mit den kubischen Holzfüßen; sah weiter zum runden mit selbstgehäkeltem Deckchen belegten Nussbaumtisch; dann hinüber zur abgegriffenen Kommode, auf der eine altmodische Tischleuchte stand, deren Glühbirne wegen des beigen Lampenschirms nur verhallten den Raum erhellte; ihr Blick verweilte kurz an der Basisstation des Tasten-Telefons, dem einzigen Zugeständnis an die Moderne – denn das Drehen der Wählscheibe war Emmas Mutter dann doch zu mühselig gewesen.

„Warum musst du auch nach Österreich ziehen! So viele Ziffern!“ Der stete Vorwurf hallte wie ein Echo durch den Raum und Emma schüttelte sich unbehaglich. Fremd waren sie sich geworden … Eigentlich schon immer gewesen … Daran etwas zu ändern, war in etwa so leicht wie Reformen in der katholischen Kirche anzustoßen: Es hätte Interesse auf BEIDEN Seiten bestehen müssen. Telefonate zwischen ihnen liefen jedoch stets nach dem gleichen Schema und hatten ihren Anfang in Emmas Frage: „Wie geht es dir?“

„Schlechten Leuten geht es immer gut …“

„Gibt es etwas Neues?“

„Nein.“ Gefolgt von dem Vorwurf: „Nie meldest du dich!“

„Gerade eben telefonieren wir doch.“

Irgendwann war Emma es leid gewesen und hatte gekontert: „Weißt Du: Das Telefon hat zwei Enden; du könntest mich auch anrufen, wenn dir danach ist.“

„Ach – sooooo viele Ziffern …!“

Emmas Anrufe waren über die Jahre seltener geworden …

Als nächstes entdeckte sie ein paar Schuhe, die wie achtlos hingeworfen am Ende des zerwühlten Bettes lagen. Wahrscheinlich war Mutter mit ihnen schlafengegangen und hatte sie dann einfach unter der Bettdecke abgestreift und aus dem Bett geschubst.

Was auch immer sie in diesem Moment ritt, Emma konnte nicht widerstehen, hineinzuschlüpfen. Als könnte sie dadurch das Wesen der Mutter besser verstehen. Entfremdet hatten sie sich nicht – dazu hätten sie vorher überhaupt einmal vertraut gewesen sein müssen.

„Was ist das plötzlich dunkel hier!“, fiel es Emma mit einem Mal auf und sie durchquerte zielstrebig den Raum, um den Lichtschalter für die Deckenleuchte zu betätigen. Die Dämmerung hatte schon vor einer Weile eingesetzt, die Nacht sich beinahe unbemerkt ausgebreitet. Unbemerkt vor allem, weil hier nicht nur ein Tag zu Ende gegangen war, sondern auch ein Leben. Das Klacken beim Betätigen des Lichtschalters unterbrach die Stille des Raumes.

„Argh!“ Das Neonlicht vertrieb die besinnliche Beleuchtung derart schnell, dass Emma die Augen zusammenkniff und zusätzlich mit der Hand beschattete.

Als sie den Kopf neigte, um dem grellen Licht auszuweichen, blieb ihr Blick an ihren Füßen hängen. Sie steckten noch in den Schuhen der Mutter. Das Pink der 1990er hatte sich gewandelt zu blassem Altrosa, der einst hochwertige Stoff war inzwischen fadenscheinig, die Lederinnensohle glänzte durch das jahrelange Tragen.

„Gute Qualität“, zitierte sie die Mutter flüsternd. „Die besten Schuhe, einfach bequem! Und haben einiges zu erzählen!“

Um die Stille im Raum zu vertreiben, griff Emma nach ihrem Handy und öffnete das Musikprogramm. Der Sänger von Depeche Mode gab mit sonorer Stimme zum Besten, man möge bitte – bevor man zu irgendwelchen Schlussfolgerungen käme – versuchen, in seine Schuhe zu schlüpfen. „Hmm … walkin´ in my shoes“, summte Emma zunächst mit, bis sie den Sinn der Wörter begriff.

„Was mache ich hier eigentlich?!“ In einem Anflug von Sentimentalität war sie in die Schuhe der Mutter geschlüpft, um ihr ein letztes Mal nahe zu sein. Doch das Einzige, was Emma in den Sinn kam, war: ausgeblichen. Gefolgt von: ausgefranst. Und dem Fazit: ausgelatscht.

„Urteile über jemanden erst, wenn du eine Weile in seinen Schuhen gelaufen bist …“, bemühte Emma eine weitere Lebensweisheit der Mutter. Doch Emma erkannte in diesem Moment vor allem eines. „Warum überhaupt urteilen?“, fragte sie sich, schlüpfte aus den Schuhen, stellte sie fein säuberlich nebeneinander, öffnete die Balkontür, atmete tief durch, bevor sie alles wieder verschloss und die Wohnung verließ, um die letzten offenen Fragen des Bestatters zur bevorstehenden Beerdigung der Mutter zu klären.

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